Anstrengender Geburtstag

Erstmals seit April war Günter wieder mal dabei, und ich war sehr froh darüber, denn alleine hätte ich das noch schwerer ausgehalten. Mama war die meiste Zeit davon überzeugt, daß ich ihre Schwester bin. Sie ist von ihrer Schwester lebenslang ausgenutzt worden – auch finanziell. Das arbeitet sie nun immer wieder an mir ab. Sie beschimpft mich dann, daß ich sie übervorteilt, bestohlen und betrogen habe. Das ist sowieso nicht schön, aber aus der Krankheit heraus verständlich. Wenn es aber an so einem Tag passiert, wo ich soviel vorbereitet habe und mir soviel Mühe gegeben habe, daß sie einen schönen Geburtstag hat, dann ist es einfach zum Heulen. Und ich bin unglaublich wütend auf diese Tante, mit der ich seit Jahrzehnten keinen Kontakt habe. Da ich überhaupt keine äußerliche Ähnlichkeit mit ihr habe, vermute ich mal, daß Mama das irgendwie abarbeiten muß. Und ich sehe natürlich auch ihre Ängste.

Zumindest der Vormittag scheint für sie schön gewesen zu sein. Auf ihrem Platz im Gruppenwohnzimmer war ein liebevolles Plakat, ein Geburtstagslicht und ein Strauß mit lachsroten Rosen aufgestellt (lachsrot ist bei Blumen ihre Lieblingsfarbe). Ein Büchlein mit Bildern, Texten und einer lesbaren Widmung vom „Herrn Pfarrer“ lag daneben. Letztes Jahr hatte er nämlich eine Sauklaue. In Mamas Tagesprotokoll stand für den Vormittag außerdem: „Bewohnerin freute sich über den Besuch vom Therapiehund“. Hier ist ein älteres Foto von Largo:

Largo groß

Wenn der Lebensraum immer kleiner wird, dann ist das mit den Geschenken auch immer schwieriger. Aber ich hatte auf einem Weihnachtsmarkt ein Hunde-Körner-und-Lavendelkissen entdeckt, das man in der Mikrowelle aufwärmen kann. Es riecht unglaublich intensiv und hat ihr gefallen:

Photobucket

Ich finde es hat durchaus Ähnlichkeit mit Therapiehund Largo als er noch ein Welpe war:

Largo Welpe

Hier sieht man Largo in der Wurfkiste als er vier Wochen alt war.

Was soll man sagen …

fragt der Shopblogger, Betreiber eines Supermarkts in Bremen, nach folgendem Erlebnis:

Eine Stammkundin hat in den letzten Jahren körperlich extrem abgebaut. Sie war immer eine große, kräftige Frau. Plötzlich war sie vollkommen verändert. Schleicht nur noch wie ein Gespenst durch den Laden, spricht kaum und ist völlig „neben sich“. Was mag da wohl passiert sein?

Ich könnte darüber jetzt einen langen traurigen Beitrag schreiben. Und dabei wollte ich doch etwas ganz anderes festhalten. Bei ihrer Suche nach einem bestimmten Brötchen hat sie ein paar andere mit bloßen Händen in den Schütten umsortiert und hinterher liegenlassen. Die angefassten Brötchen habe ich (so weit ich sie identifizieren konnte) rausgenommen und entsorgt. Gesagt habe ich nichts, da es wahrscheinlich beim nächsten Besuch schon wieder vergessen gewesen wäre.

Ach, scheiße sowas. Das tut echt weh, sowas mitzuerleben

Mein Kommentar:

Da muß gar nichts Spezielles passiert sein. Auch das ist eines der vielen Gesichter der Demenz im Anfangsstadium. Danke, daß Sie nichts gesagt haben, denn wenn die Frau Sie verstanden hätte, dann würde sie sich unglaublich schämen. Schön, daß ihr das erspart geblieben ist.

Es gibt Demenzformen, bei denen schon ziemlich im Anfangsstadium soziale Konventionen verloren gehen. Das kann sich auch so äußern, daß jemand für eine Situation unangemessen gekleidet ist (Schlafanzugjacke auf Hose …) oder daß vergessen worden ist, daß man eben im Geschäft offene Ware nicht betastet.

Auch wenn dementiell veränderte Menschen Fakten und Erlebnisse nicht mehr wissen, so bleibt das emotionale Gedächtnis. Meine Mutter muß auch irgendeine Ansprache in ihrem Stammsupermarkt bekommen haben, wobei ich mir sicher bin, daß das mit großer Freundlichkeit erfolgt ist. Sie war sich jedenfalls ganz sicher, daß irgendwas ganz Schlimmes passiert ist. Sie wußte nicht mehr, was passiert ist, aber daß sie sich so schämt, daß sie nicht mehr hingehen kann.

Wenn das, was die Kundin unverkäuflich macht, tolerable Beträge überschreitet, dann wäre die Frage, ob Sie mit Angehörigen in Kontakt kommen können. Irgendwann werden die vermutlich sowieso auf Sie zukommen, wenn sich irgendwas zuhause stapelt, was in dieser Menge nicht verbraucht werden kann. Ich habe manchmal 10 große Packete Toastbrot entsorgt bzw. mehr als 40 Päckchen Spüllappen vorgefunden …

Spielfilm über Demenz gewinnt Publikumspreis

Vorgestern ging beim Kinofest in Lünen der mit 10 000 Euro dotierte Publikumspreis „Lüdia“ an den deutschen Spielfilm „Eines Tages …“

Regisseur Iain Dilthey erzählt in dem ebenso gefühlvollen wie informativen Film von drei demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen. Die Schauspieler Horst Janson und Herbert Schäfer waren am Freitag in Lünen, um den Film vorzustellen.Bei der Kinofest-Abschlussgala am Sonntagabend nahm dann Produzent Torsten Reglin die Bronzestatue stellvertretend entgegen. „Das ist eine Riesenehre, weil unser Film so klein daherkommt“, sagte Renglin in der Cineworld. „Allein die Einladung nach Lünen hat uns irre gefreut.“ (von hier)

Mehr Infos zum Film findet man hier

Hinschauen: Mirrored Memory

ist eine Fotoserie von Tom Hussey für ein Alzheimermedikament. Ich hätte nicht erwartet, in einem solchen Umfeld so gute Fotos zu finden, die respektvoll mit dieser Krankheit umgehen. Ich habe Werbeslogans im Ohr im Stil von „Bei nachlassender Gedächtnisleistung hilft Ginko-XY“. Dass man sich dem Thema auch anders annähern kann, zeigt diese Arbeit sehr eindrucksvoll. Hoffentlich wirkt sie als Vorbild für andere. Der Fotograf hat dafür einen renommierten Preis gewonnen.

Wieder mal: Pflegehilfen aus Osteuropa

Pflegehilfen aus Osteuropa
Wie Betroffene in Notlagen schikaniert und kriminalisiert werden
ist einer der Beiträge von Report Mainz in der ARD um 21.45 h angekündigt.

schrieb ich in meinem letzten Blogeintrag. In dem Beitrag ging es um Angehörige von Pflegebedürftigen, die sich Helfende aus einem osteuropäischem Land holen. Das geht legeal über die Bundesagentur für Arbeit und dauert etwas länger wegen der Formalitäten. Die osteuropäischen Helfer sind dann angemeldet und sozialversicherungspflichtig und krankenversichert beschäftigt und haben eine Arbeitszeit von 38,5 Stunden. Aber meist geht es um etwas anderes, nämlich daß osteuropäische Hilfskräfte, die desöfteren durchaus eine medizinische Vorbildung haben, zum Billigtarif rund um die Uhr oder fast rund um die Uhr für einen Pflegebedürftigen da sind.

Schon die Anmoderation des siebenminütigen Beitrages hatte es in sich. Da wurde polemisiert in Richtung „… um ihre Angehörigen nicht ins Heim abschieben zu müssen“. Als ob ein Heim immer nur eine schlechte Option sein kann. Natürlich wird man sich bemühen, jemand so lang wie möglich in seinem Umfeld zu belassen. Allerdings sollten dabei auch die Helfer und ihre Belange im Blick bleiben.

Zwei Angehörige wurden anonymisiert gezeigt. Sie hatten sich Hilfe über eine Agentur aus Osteuropa geholt. Eine verstellte Männerstimme wunderte sich, daß bei der Zahlung von 850 Euro Vermittlungsgebühr und wöchentlich 200 Euro auf die Hand für die Pflegekraft – „also schwarz“ fragt der Reporter noch nach – etwas nicht in Ordnung sein solle und er kriminalisiert werde. Er dachte, das wäre alles rechtens. Bis ihm dann der Zoll auf den Hals gehetzt“ wurde.

Ein Mitarbeiter des Zolls im München sagte in seinem Statement, daß monatlich um die 250 Anzeigen aus diesem Bereich reinkämen.

Eine namentlich genannte Frau, die das umständliche Behördenprozedere durchgestanden hat und namentlich interviewt wurde, meinte, sie würde es nicht mehr legal machen.

Im alten Weblog hatte ich schon Einiges zu diesem Thema geschrieben

September 2005:
Legal – illegal – scheißegal

23. März 2006:
Nahe Fremde
über einen Artikel im Tagesspiegel

In der Sendung Frontal 21 (ZDF) gab es vor längerer Zeit einen ca. 7minütigen Beitrag über „moderne Arbeitssklaven“, der die Situation der osteuropäischen Hilfskräfte aus deren Blickwinkel zeigte und auch, welche Auswirkungen es auf die Familien in Osteuropa hat. Leider funktioniert der Link nicht mehr.

Mitmachen!

Zeigen Sie der Bundeskanzlerin die gelbe Karte für ihre Gesundheitspolitik – so heißt eine Online-Aktion des DBFK (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe). Hier kann man sich beteiligen. Unter vorgegebenen Antworten kann ausgewählt werden, aber auch eigene Statements sind möglich. Bereits über 14000 Stimmen sind abgegeben worden. Aufmerksam geworden bin ich durch das Whocares-Blog, in dem viel Lesenswertes über Gesundheitspolitik zu finden ist.

Weitergedacht: epidemische Ausmaße

Neulich als beim Auslandsjournal der Moderator einen Beitrag über eine Alzheimer-Siedlung in den Niederlanden einleitete, wies er darauf hin, daß in Deutschland in jeder Stunde bei zwanzig Menschen eine Demenzdiagnose gestellt wird. Das sind dann – so wie Statistiken funktionieren – jeden Tag 480 (vierhundertachtzig) Neuerkrankungen, 3360 (dreitausenddreihundertsechzig) Neudiagnosen pro Woche und 13340 jeden Monat. Das ist eine Kleinstadt. Im Jahr wären das 160 080 Neuerkrankungen. Das sind mehr Menschen als in Oldenburg mit 157 000 Einwohnern leben.

Kann das wirklich stimmen? Das ist ja astronomisch. Ich befrage die Suchmaschine meines Vertrauens und finde auf der Seite Medizininfo folgende Angaben:

Jedes Jahr erkranken zuvor gesunde Menschen neu an einer Demenz. Diese Zahl der Neuerkrankungen nennt man auch Inzidenz. In Deutschland sind das etwa 231.000 Neuerkrankungen bei den über 65. Jährigen. Davon entfallen auf die Alzheimer Erkrankung etwa 125.000.
Jedes Jahr erkranken über 200.000 Menschen neu.
Derzeit wird die Zahl der Betroffenen in Deutschland auf 935 000 geschätzt.

Zum Vergleich: Köln hat derzeit 998 105 Einwohner.

Und wie der bloggende Neurologe DrGeldgier immer wieder so schön und zutreffend sagt: „Demenz ist eine Familienkrankheit“.

Wenn ich mir das vor Augen führe, dann finde ich, daß über Demenz noch viel zu wenig gesprochen wird. Fazit: Demenz ist eine gesellschaftspolitische Herausforerung und wir haben es noch nicht kapiert.