November: Totengedenken

Giannina vom Klanggebet-Blog hat ein Gedicht gepostet. Auch ihre Überlegungen dazu sind lesenswert.

An die Verstorbenen

Lebenslandschaft (Kunsttherapie)

Lebenslandschaft (Kunsttherapie)

Was ich versäumte zu sagen, das sag ich Dir nun
Und was ich versäumte an Taten, das will ich jetzt tun
Und was ich versäumte zu lassen, das lasse ich zieh’n
Und so ich versäumte zu sehen, seh’ ich nun hin
Und wenn ich vergaß Dich zu halten, so halt’ ich Dich jetzt
und bat ich Dich nicht um Vergebung, da ich Dich verletzt
so bitt’ ich Dich heute, und halte Dir hin
all dies Versäumte, und das was ich bin.
Schwer ist mir das Herz, das dankbar erkennt:
Nie liebte ich Dich mehr als in diesem Moment.

(giannina wedde, klanggebet.wordpress.com)

(Das Bild ist im Rahmen des künstlerischen Arbeitens mit dementiell veränderten Menschen im Heim, in dem meine Mutter zuletzt gelebt hat, entstanden. Es ist eine dreidimensionale Stoffcollage, die dann besprüht worden ist.)

Demenz und Poesie

Wenn von dementiell veränderten Menschen und Formen künstlerischen Gestaltens die Rede ist, dann kommen sehr schnell Formen des Ausdrucks durch Malen oder andere gestalterische Techniken in den Blick – im weitesten Sinn Kunst- und Gestaltungstherapie oder Singen und Musik. Heute berichtet die Berliner Morgenpost von einem jungen Mann, der in Amerika dazu angeregt wurde, Poesie und Reime einzusetzen. Er ist in Pflegeeinrichtungen unterwegs und schult Mitarbeiter.

Im englischsprachigen Raum gibt es schon sehr viel weitergehende Ansätze mit  Schreibgruppen für Demenzkranke. Manche Heime wie das Heim, in dem meine Mutter gelebt hat, haben Heimzeitungen. Die Bewohner und Angehörigen freuten sich sehr über jede neue Nummer, und manche Bewohner trugen auch das eine oder andere dazu bei.

http://www.morgenpost.de/printarchiv/familie/article107907599/Mit-Poesie-Demenzkranke-erreichen.html

http://www.alzpoetry.com/about/

und auf Deutsch ein Artikel in der SZ:

Klicke, um auf Alzpoetry.SZ.pdf zuzugreifen

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung für Arno Geiger

In Weimar hat heute Arno Geiger den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhalten. In der Würdigung heißt es:

Geigers Werke, besonders Es geht uns gut, Anna nicht vergessen, Alles über Sally, Der alte König in seinem Exil, sind – so die Begründung der Jury – Zeitromane von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. In ihren Themen kann sich unsere Gesellschaft in der technisch-globalen Moderne erkennen: Es geht um die Freiheit des Willens, um Menschenwürde, um Sprache und Persönlichkeit, um den Umgang mit Krankheit und Altern, um interkulturelle Erfahrungen.

Zugleich zeugen diese Werke von einer Ethik der familialen und sozialen Verantwortung, die sich bewährt, wenn der Charakter stärker wird als die Intelligenz, das Verstehen wichtiger wird als das Wissen. So schreibt Geiger mutige Charakterbücher, die den Leser nach dem Sinn des eigenen Lebens und Alterns fragen lassen.

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Zu seinem Buch „der alte König in seinem Exil“, in dem es um die Demenzerkrankung seines Vaters geht, heißt es:

Das Buch ist vieles zugleich: Autobiographie, Familiengeschichte, Vatererzählung, Dorfchronik und vor allem stark familiär gefärbte Krankheitsgeschichte der Alzheimer-Demenz. Es geht um Geigers 1926 geborenen Vater, bei dem sich 1995 erste Anzeichen der Krankheit zeigten. Als der Vater vorübergehend in ein Pflegeheim musste, begann der Sohn mit dem Schreiben über den Vater und der Aufarbeitung von dessen Lebensgeschichte.

Geigers Buch behandelt das Thema Altern und Demenz auf eine neuartige Weise: nicht diagnostisch wie Jonathan Franzen (Das Gehirn meines Vaters, Die Korrekturen, 2002), nicht als Abrechnung wie Tilman Jens (Demenz: Abschied von meinem Vater, 2009), nicht in der Verpackung einer Fiktion (wie in Martin Suters Roman Small World, 1997), sondern mit Empathie, in einer demütigen Haltung gegenüber der Krankheit, die das Familienleben grundlegend verändert.

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Arno Geiger

Artikel aus der Thüringer Allgemeinen (screenshot)


Die Thüringer Allgemeine hat aus diesem Anlaß ein Interview mit dem Preisträger geführt, in dem es u.a. heißt:

Kann man in der Demenz einen Sinn erkennen?
Einen Sinn sicher nicht. Aber die Krankheit macht gewisse Dinge anschaulich. Bei mir hat die Konfrontation mit dieser schrecklichen Krankheit und dem damit verbundenen schleichenden Verlust Denk- und Erkenntnisprozesse ausgelöst. Das macht es natürlich nicht weniger schlimmer und rechtfertigt auch nichts. Aber ich sehe in der Zerbrechlichkeit meines Vaters jetzt auch meine eigene Zerbrechlichkeit. Ich beschäftige mich stärker damit, was der Mensch eigentlich ist. Eine Frage, die man sich möglicherweise da und dort einfach auch zu selten stellt.

Wie lautet die Antwort – was ist der Mensch und was macht ihn aus?Der Mensch ist unvollkommen und schwach, eigentlich schon von Geburt an und das bleibt so ein Leben lang. Trotzdem ist in dieser Unvollkommenheit etwas Ganzes, das bleibt, bis zum Schluss. Als 30-Jähriger mag ich das Gefühl haben, dass mir nichts passieren kann, ich bin gesund, ich bin intelligent, ich bin stark, mir steht die Welt offen. Aber dann kommt so eine Krankheit wie die meines Vaters, und ich bin überfordert und ich bin völlig hilflos und ich bin schwach. Das ist das, was ich in meinem Vater Tag für Tag sehe. Die Person ist da. Wie er sich bewegt, wie er reagiert, das ist ganz mein Vater. Jeder bleibt eine eigenständige Persönlichkeit, begrenzt von Schmerz, Leid in unterschiedlichsten Ausformungen. Aber der ganze Mensch geht nicht verloren in diesem Schmerz und in diesem Leid, so traurig die Situation dann auch ist.

Unbedingt Lesen!!!

Buch der Nähe …

hat Dirk Knipphals seine Rezension in der taz über Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil“ überschrieben. Dort heißt es:

Es gibt in diesem Buch so etwas wie eine unerhörte Begebenheit. Mit der Alzheimererkrankung des Vaters August Geiger, die der Schriftsteller Arno Geiger autobiografisch schildert, hat sie natürlich zu tun; aber sie geht darin nicht auf. Alzheimer ist ein Schreckenswort. Alles, was schlimm daran ist, kommt vor: die Alltagsuntauglichkeit, der Verlust kognitiver Fähigkeiten, die Abhängigkeit von Betreuerinnen, mit denen es mal mehr und mal weniger gut läuft, die Verzweiflung. Aber die unerhörte Begebenheit, die dieses Buch antreibt, entwickelt gegenüber diesen Umständen ein eigenes Recht.

Sie besteht darin, dass der Sohn und Icherzähler mit dem kranken Vater eine neue Beziehung eingehen kann. Der Vater war, nach schöner Kindheit, im Leben des Icherzählers schon an den Rand gedrängt gewesen. Pubertät und frühes Erwachsenenalter halt. „Der Vater war mir während dieser Zeit einfach nicht besonders wichtig und phasenweise egal.“ Gegen Schluss des Buchs sagt der Icherzähler aber dann über sein Verhältnis zu seinem Vater: „Es gibt da etwas zwischen uns, das mich dazu gebracht hat, mich der Welt weiter zu öffnen.“ Man verbringt Zeit miteinander. Die Verletzlichkeit des Vaters hebt manche emotionale Sperre auf. Und das wirkt auf den Sohn zurück. Es weitet seine Weltzugänge.

Die Fallhöhe, die hier aufscheint, ist enorm. Mit Alzheimer verbindet man Verluste. Hier ist nun, mit aller Vorsicht, auch von neuen Erfahrungen und sogar von Gewinnen die Rede. Bei einem schlechten Erzähler wäre man sich da mehr als unsicher, ob man sich hier angemessen gegenüber dem Schicksal des kranken Vaters verhält. Arno Geiger aber hat einen Weg gefunden, davon zu erzählen.

Ein afrikanischer Blick auf Alzheimer

Yemma„Yemma – Meine Mutter, mein Kind“ heißt Tahar Ben Jellouns bewegende Erzählung von der Alzheimer-Erkrankung seiner Mutter. „Ich habe meiner Mutter zu essen gegeben. Meiner Mutter, meinem Kind. Einen Löffel Milch mit Käse. Wie einem Kind, das mit geschlossenen Augen isst, und meine Hand zittert vor Rührung.“ Der hier seine an Alzheimer erkrankte Mutter füttert, ist Tahar Ben Jelloun. Und das Kind ist Lalla Fatma, seine alte Mutter, die mit einer Pflegerin zurückgezogen in ihrem Haus in Tanger lebt. Mal verwechselt sie ihn mit ihrem vor dreißig Jahren gestorbenen jüngeren Bruder. Dann mit ihrem ältesten Sohn Mustafa aus ihrer ersten Ehe mit fünfzehn. Oder sie sieht in ihm nur den kleinen kranken Tahar, den sie in Fes hätschelte. Oder beklagt sich, dass er sie seit seiner (!) Beerdigung nicht besucht hat. Dazwischen Momente von großer Klarsichtigkeit: Von ihrem Bett aus erinnert sie sich an ihre Jugend, ihre Ehen, die Hochzeitsfeste, die Vorbereitungen im Hamman. Eines Morgens bestellt sie Handwerker, die ihr Haus für die Beerdigung schmücken sollen. Dann wieder lacht sie und schminkt sich für ihre drei (verstorbenen) Ehemänner, die sie zum Essen erwartet. Lalla Fatma bevölkert ihr Haus mit Fantomen, Erinnerungen und Halluzinationen. Doch eines Tages bleiben auch die aus. Sie redet nur noch mit sich, singt leise vor sich hin, sagt nichts mehr. Ihr Blick ist leer. Und der Sohn hält ihre Hand, erzählt ihr von seiner Kindheit mit ihr, ihrer Schönheit als junger Mutter – bis auch diese Hautberührung zuviel ist, ihr unerträgliche Schmerzen bereitet. … so der Klappentext.

Berührend und manchmal bestürzend fand ich so manche der aus einer anderen Kultur stammenden Sprachbilder, zu denen ich ganz spontan einen Zugang hatte. Geradezu beklemmend wurde es, als er die Gier zweier Helferinnen im Umfeld der Mutter beschrieb. Die eine bediente sich schamlos an Kleidungsstücken, sodaß nach dem Tod der Mutter davon nichts mehr auffindbar war. Bei der letzten Begegnung nach dem Tod der Mutter mit den Familienangehörigen scannt sie den Raum ab, was sie noch mitnehmen kann oder nicht. Er beschreibt die Ambivalenz zwischen Aggression und Abhängigkeit sowohl auf Seiten der kranken Mutter als auch der erwachsenen Kinder, und auch die Wehrlosigkeit, weil die Krankheit so viel emotional abverlangt, dass man nicht auch noch an dieser Front kämpfen kann.

Man erfährt Einiges über das Altern in Marokko, Rückblenden in die Jugendzeit des Verfassers, gemeinsamer Erlebnisse, und es ist an keiner Stelle kitschig oder sentimental

Remember – Lied zum Thema Alzheimer

Dieses Lied hat Louise van Aarsen ihrer Mutter gewidmet, die im November 2009 verstorben ist. Sie war dement. Die Zeichnungen im Video hat Louise van Aarsens Mann Jan van Aarsen gestaltet.

ERINNERN
Du sitzt da und starrst mich an
weißt nicht mehr meinen Namen
Einst hieltest du mich in deinen Armen
Und hättest keinem geglaubt, der gesagt hätte
Du könntest das vergessen

Du nimmst meine Hand,
legst sie auf dein Gesicht
Jetzt erinnert sich deine Haut an mich
Erinnerungen an einem abgelegenen Ort
Gern würde ich dich dorthin begleiten, weiß aber
nicht Wie…

Das Lied ist mit der Bitte verbunden, die Alzheimerforschung zu unterstützen. Den englischen Text mit einer deutschen Übersetzung kann man hier nachlesen. Die Website der Künstlerin, die als Biologin in der Krebsforschung arbeitet, ist hier.