Ein Dorf für Demenzkranke am Bodensee?

Seit ich im Sommer 2015 erstmals das niederländische Demenzdorf „de Hogeweyk“ hier im Blog erwähnt habe, sind immer wieder Besucher über dieses Stichwort auf das Blog gekommen. Inzwischen gibt es auch ein deutsches Demenzdorf bei Hameln in Nieder-sachsen. Allerdings mußten aufgrund der deutschen administrativen Rahmenbedingun-gen konzeptionelle Zugeständnisse gemacht werden, denn so ein Demenzdorf ist mit deutschen Richtlinien und Vorgaben nur schwer umzusetzen.

In Hergensweiler bei Lindau soll nun für 120 Menschen ein Demenzdorf entstehen, das näher am niederländischen Orginal dran ist. Das wäre dann möglich, wenn dieses Vorhaben ein Forschungsprojekt werden könnte. Darüber ist in der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung ein Artikel erschienen und zwar hier.

Nachtrag: Ich habe mir die Suchworte angeschaut, die auf dieses Blog geführt haben. Es führt : „alzheimerblog wordpress“. Danach kommt in unterschiedlichen Varianten das Demenzdorf in den Niederlanden – und danach kommt lange nichts. Das scheint mir ein Hinweis zu sein, daß viele Menschen nach einer anderen Betreuungsform für demente Menschen suchen als das, was sie bis jetzt meist vorfinden.

 

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Endlich: Berliner mit Betreuer dürfen wählen

Berliner, die dauerhaft einen Betreuer an ihrer Seite haben, dürfen künftig wählen. Eine entsprechende Änderung des Landeswahlgesetzes wurde am 7. März 2019 von den Abgeordneten mehrheitlich beschlossen. Das Gesetz regelt die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen.

Bislang waren Menschen von Wahlen ausgeschlossen, die zur Besorgung aller Angelegenheiten dauerhaft einen Betreuer haben. Eine Betreuung bekommen die Betroffenen, wenn sie zum Beispiel eine psychische Krankheit haben oder körperlich oder geistig behindert sind. Zudem durften Berliner nicht wählen, die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Straftat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Diese Gruppen können nun wählen. Die Fraktionen von SPD, Linke und Grünen hatten die Änderung eingebracht.

Christian Specht, der selbst unter Betreuung steht und viele Jahre politisch engagiert ist, schreibt in der taz, was diese Gesetzesänderung für ihn bedeutet – und zwar hier.

 

 

Nach dem Bremer Tatort …

… gab es gestern im Live-Talk von Radio Bremen eine große Resonanz. Ich mußte an ein Treffen der Alzheimer-Angehörigen-Gruppe denken, das acht Jahre zurück liegt und über das ich schon mal geschrieben habe. Nach dem Film denke ich, daß sich inzwischen kaum was geändert hat. Hier ein Einblick in ein solches Gruppentreffen:

Her Huber, der natürlich im realen Leben nicht Herr Huber heißt, sondern ganz anders, weil alle hier im Weblog neue Namen bekommen – außer Günter, der hat sich dagegen verwahrt – also Herr Huber besucht die gleiche Angehörigengruppe wie ich.

Seine Frau ist im Heim, seit einem Jahr. Jahrelang hat er sie zuhause gepflegt, bis es nicht mehr ging, bis zum Zusammenbruch. Er konnte sie nicht mehr heben, und es sind zwei Leute erforderlich, um seine Frau zu drehen, zu waschen und was sonst noch so anfällt. Das war irgendwann selbst mit einem Pflegedienst, der zur Unterstützung ins Haus kam, nicht mehr zu machen.

Herr Huber hat ein offenes Gesicht und einen sehr trockenen Humor. Er besucht seine Frau, die nicht mehr sprechen kann, jeden Tag drei Stunden. „Danach bin ich immer völlig erschöpft“ erzählt er. „Da muß ich mich erst einmal erholen“. Einmal in der Woche nimmt er sein Instrument ins Heim mit, und dann singt er mit der Gruppe, in der seine Frau ist Volkslieder. Es ist ganz gemischt in diesem Haus und auf der Station, auf der seine Frau liegt. Es ist keine reine „Dementeneinrichtung“.

Ich habe ihn spontan auf Anfang bis Mitte 70 geschätzt. Als er neulich eine Bemerkung machte, seine Frau und er seien seit fast 65 Jahren verheiratet, meinte ich ganz perplex: „Ja, dann müssen sie mindestens Mitte 80 sein.“ „Ja, meinte er, wir haben sehr jung geheiratet. Wir waren 21“ sagte er mit versonnenem in die Ferne gerichteten Blick – und er schob nach: „Wissen Sie, wir sind gleichaltrig“.

„Das ganze Leben habe ich gearbeitet, fast 40 Jahre Rente eingezahlt. Durch den Krieg, wissen Sie, sonst wären es noch mehr Beitragsjahre gewesen. Aber das wird ja angerechnet.“ Einen guten Lebensstandard habe er seiner Familie bieten können. Angestellter im technischen Dienst „in gehobener Position“ sei er gewesen.

Und jetzt, erzählt er uns in der Angehörigengruppe – „und jetzt habe ich noch 420 Euro im Monat, wenn die Miete weg ist. 420 Euro für alles: Das Essen, die Medikamente, Versicherungen, was halt so anfällt. Das Auto haben sie mir nur gelassen, weil ich gehbehindert bin, die vom Amt, von wo aus das Heim für meine Frau bezahlt wird“ (das mehr als 4000 Euro im Monat kostet, wobei dann tagsüber zwei Pflegepersonen für 32 Menschen zuständig sind). Den Garten – gemeint ist der bei Berlinern so beliebte „Schrebergarten“ oder „die Laube“ habe er ja schon lange vorher aufgeben müssen.

„Letzten Monat war ick dreimal zum Jeburtstach einjeladen“ berlinert er. „Ick bin ja froh drüwer, dat ick wieda einjeladn werde. De Jrankheit isoliert een ja. Det wissen Se ja ooch alle.

Zustimmendes Nicken geht durch die Runde.

„ Aber ick konnte nich hinjehn. Also nich zu de dreie, nur zu eenem. N’ kleen Blumenstrauß und n’ kleenes Jeschenk, da musste mit 20 Euro rechnen. Man möchte ja nich so janz ohne wat in de Hände kommen. Aber det kann ick ma nich leistn. Man schämt sich ja soo. Det kann ick Ihnen jar nich sagen, wie man sich schämt. Det hätt ick mer nie jedacht, dat ick oof meene altn Taje so dastehe. Det janze Leben jearwetet, und nu stehste mit 420 Euro da.“

(Ich bin ja froh darüber, dass ich wieder eingeladen werde. Die Krankheit isoliert einen ja. Das wissen Sie ja auch alle. Aber ich konnte nicht hingehen. Also nicht zu allen drei Geburtstagen, nur zu einem. Einen kleinen Blumenstrauß und ein kleines Geschenk, da musst Du mit 20 Euro rechnen. Man möchte ja nicht so ganz ohne was in den Händen kommen. Das kann ich mir nicht leisten. Man schämt sich ja so. Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie man sich schämt. Das hätte ich mir nie gedacht, dass ich auf meine alte n Tage so dastehe. Das ganze Leben gearbeitet, und nun stehst Du mit 420 Euro im Monat da.)

Und man hört förmlich, wie alle die, die ihre Angehörigen noch zu Hause pflegen, denken: „Hoffentlich kommt es bei mir nicht so weit. Hoffentlich nicht. Nur das nicht.“ Und doch weiß jede – es sind heute lauter Frauen da, die zuhause pflegen – dass es ein Wettlauf gegen die Zeit ist, dass irgendwann der Moment kommen wird, wo es nicht mehr gehen wird. Denn an Alzheimer allein stirbt keiner. Mit Alzheimer kann man uralt werden. Und einige benennen ihre persönlichen Grenzen. Zaghaft sagt eine: „Wenn er nicht mehr nur einpullert (einnässt), sondern wenn es dann auch groß ist, was er in der Hose hat. Ihn dann sauberzumachen, das schaffe ich nicht“.

Und die beiden anwesenden Männer, die jahrelang ihre Frauen zuhause gepflegt haben, blicken sich an und Herr Huber sagt unter zustimmenden Nicken seines Sitznachbarn: „Das dachte ich auch, dass ich das nicht schaffe. Aber man schafft viel mehr als man jemals dachte, dass geht. Es muß ja gehen. Sonst bleibt nur noch das Heim“.

Frau Bernhard, eine liebe einfache Frau, die an diesem Nachmittag als erste in der Runde erzählt hatte, dass sie es wohl nicht mehr lange mit der Pflege zuhause schaffen wird – sie muß auch zwischen 75 und 80 sein und hat zwei Herzinfarkte hinter sich – Frau Bernhard meint: „Irgendwie muß es ja weitergehen“. Sie schaut in die Runde und hofft auf Bestätigung. „Irgendwie muß es doch …“ wiederholt sie und ihre Stimme bricht ab.

Die drei Wochen „Verhinderungspflege“, die von der Krankenkasse für ihren Mann bezahlt wird, hat sie dieses Jahr schon ausgeschöpft für ihren letzten Krankenhausaufenthalt. Da war dann ihr Mann stationär in einem Heim untergebracht, und sie hat sich auf eigene Verantwortung vorzeitig entlassen lassen um ihn wieder nach Hause zu holen. Jetzt ist erst Anfang Juli. Kränker darf sie nicht werden. Urlaub ist auch nicht drin. Der ist bei den drei Wochen, die ihr an „Verhinderung“ zugestanden werden, schon mitgerechnet. Frau Bernhard weiß das und wir alle in der Runde wissen es.

Sie versucht einen entschlossenen Gesichtsausdruck zu machen. Ihr Gesicht fällt in sich zusammen und sie beginnt zu weinen. Sie schaut zur Gruppenleiterin und fragt mit gepresster Stimme: „Aber wenn es dann soweit ist, wenn es dann gar nicht mehr geht, helfen Sie mir dann, dass ich einen Platz finde, wo es mein Mann gut hat. Ich kenne mich doch mit so was gar nicht aus. Jetzt geht es ja noch“.

Nur Schlaglichter aus zwei Stunden Gruppentreffen, das für die meisten Pflegenden die einzige Möglichkeit innerhalb von zwei Wochen ist, mehr zu sprechen als das, was man beim Einkaufen so sagt. Und dabei habe ich noch gar nicht von Frau Althauser erzählt, die traurig ist, weil sie nach dreißig Jahren letzte Woche ihr Konzertabonnement gekündigt hat und von der blinden Frau Gabler, die ihre demente, oft weglaufende Schwester pflegt.

Nicht die Krankheit ist tückisch sondern die deutsche Bürokratie …

So ist ein Interview überschrieben, das der Humanistische Pressedienst mit Wiebke Hoogklimmer geführt hat. Hier im Blog habe ich ihre CDs Volkslieder als Therapie bei Demenzerkrankungen und die Weihnachtslieder-CD vorgestellt. Mit diesem Projekt hilft Wiebke Hoogklimmer Angehörigen und Pflegekräften einen besonderen Zugang durch das Singen zu finden. Das Interview finde ich sehr lesenswert, weil es ganz unterschiedliche Dimensionen, nämlich die persönliche und die politische thematisiert.

Osteuropäische Haushaltshilfen: Vor Ort Abladen und Auftanken

In Markdorf am Bodensee haben Ehrenamtliche der Caritas für osteuropäische Frauen, die als Haushaltshilfen rund um die Uhr in Familien Kranke betreuen ein neues Angebot geschaffen. Regelmäßig können sich die Frauen treffen, um deutsch zu lernen und sich über ihre Situation auszutauschen. In der Sozialcourage 3 / 2016 ist darüber ein Artikel erschienen: Ein Ort zum Abladen und Auftanken.

Der Artikel endet mit folgenden kritischen Überlegungen:

Arbeiten in der Grauzone

Trotz verschiedener Bemühungen, die Situation fairer zu gestalten: Die 24-Stunden-Betreuung von Senioren bleibt eine Grauzone. Je nach vermittelnder Agentur haben die Frauen mal deutsche, mal polnische oder bulgarische Arbeitsverträge. Lohn und Freizeit sind nach dem entsprechenden Arbeitsrecht geregelt – wobei eine 24-Stunden-Haushaltshilfe nie auf den deutschen Mindestlohn kommen wird.

Gerda Dilgers Absicht ist nicht, sich in solche Verträge einzumischen. Wenn sie von Missständen erfährt, ermutigt sie die Frauen, die Beteiligten auf ihr Problem aufmerksam zu machen und mit ihnen Lösungen zu suchen: mit dem Hausarzt, den Angehörigen, der vermittelnden Agentur, mit Nachbarn.

Im Austausch mit den Vermittlungsagenturen gibt sie auch mal den einen oder anderen Tipp, zum Beispiel, dass die Familien angehalten werden, für die Osteuropäerinnen Internet und Skype einzurichten, damit sie Kontakt in die Heimat halten können.

 

Im alten Alzheimer-Weblog hatte ich schon Einiges zu Haushaltshilfen aus Osteuropa geschrieben, was nach wie vor immer noch aktuell ist:

September 2005:
Legal – illegal – scheißegal

23. März 2006:
Nahe Fremde
über einen Artikel im Tagesspiegel

Wie Pflegekonzerne durch Ambulantisierung Kasse machen

Letzte Woche habe ich ein neues Wort gelernt: „Ambulantisierung der Pflege“. Ein Beitrag in der Sendung Report Mainz informierte über einen neuen Trend, der im Zusammenhang mit der Pflegereform zu sehen ist.

Die Politik will damit eigentlich unterstützen, daß Menschen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen zuhause versorgen finanziell etwas besser gestellt werden und etwas mehr finanzielle Spielräume haben als das bisher der Fall ist. Wenn man sieht, wie hoch die Beträge sind, die ein Pflegeplatz in einem Heim kostet und welche Kosten die pflegenden Angehörigen einsparen helfen, dann kommt diese finanzielle Besserstellung sicher nicht zu früh.

Aber da gibt es gleich andere, die auf diesen Zug aufspringen und profitieren, obwohl sie gar nicht die eigentlichen Adressaten dieser Neuerung sind. Im Fernsehbeitrag wird eine alte Dame mit ihrer Tochter gezeigt. Bis jetzt hat sie ein Zimmer in einem Pflegeheim bewohnt. Von einem Tag auf den anderen hat der Betreiber des Heimes – eine bundesweit tätige Kette – in das Zimmer eine kleine Küchenzeile gestellt: Herd, Spüle, Kühlschrank. Die alte Dame benötigt das nicht. Mit ihr und ihrer Tochter wurde nicht darüber gesprochen. Das neue Möbel steht ungenutzt herum und beansprucht nur Platz.

Für die Bewohnerin hat die Küchenzeile keinen Nutzen, für den Heimträger schon: Jetzt ist nämlich aus dem Zimmer im Pflegeheim ein „Apartment“ geworden, und im Erdgeschoß des Hauses befindet sich nun ein „ambulanter Pflegedienst“, bei dem die Mitarbeitenden, die die Menschen in den Pflegeapartments versorgen, angestellt sind. Für die Heimbewohner hat sich – außer der Küchenzeile – nichts geändert. Es gibt keinen Mehrwert für sie. Alles ist wie vorher nur das Heim kann mit den Pflegeapartments mehr Geld abrechnen als vorher. Von über drei Milliarden Euro ist in der Sendung die Rede, die das an Mehrkosten für das Gesundheitswesen voraussichtlich bringt.

Den Beitrag kann man hier anschauen.

Wer wählt für die Dementen?

Auch Demente sind wahlberechtigt. In Deutschland sind schätzungsweise 700 000 Menschen von dieser Frage betroffen. Ob sie auch wahlfähig sind, ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Es ist eine heikle Diskussion, die niemand führen will. In vielen Fällen werden andere (Angehörige, Mitarbeiter von Pflegeheimen) dieses Recht für sie ausüben, was strafbar ist. Markus Wehner hat dazu einen lesenswerten Artikel in der FAZ publiziert.