
Stern vom 12. Mai 2011
Der aktuelle Stern macht mit der Selbsttötung von Gunter Sachs auf und überschreibt sie mit „letzte Freiheit“. Ist es wirklich ein Zeichen von Freiheit oder von Unfreiheit, in dieser Situation aus dem Leben zu gehen? „Letzte Freiheit“ suggeriert etwas Heroisches. Und dieser Tod hat für mich nichts heldenhaftes. Ein Mensch, der nach gängigen gesellschaftlichen Maßstäben alles hatte, setzt seinem Leben ein Ende. Dieses Leben war ein nach außen inszeniertes Leben, und Gunter Sachs hatte die Kontrolle über diese Inszenierung. Alzheimer, wobei niemand weiß, ob er wirklich im Anfangsstadium dieser Krankheit war, bedeutet: Zunehmenden Kontrollverlust und zunehmendes Angewiesensein auf andere. Das konnte Gunter Sachs nicht ertragen – oder besser gesagt, diese Vorstellung konnte und wollte er er nicht ertragen. Er hatte materiell gesehen viel bessere Voraussetzungen als die meisten anderen: Er hätte sich Betreuung und Unterstützung nach seinen Bedürfnissen und Wünschen leisten können. Jemand, der eben mal zum Zahnarztbesuch nach Kalifornien jettet, scheitert an der Zukunftsperspektive Demenz. Die materielle Seite, die viele an den Rand der Verzweiflung treibt – neben allen möglichen anderen Schwierigkeiten, kann es nicht gewesen sein. Er wollte sich selber und anderen das nicht zumuten. Wobei noch die Frage wäre, wie die „anderen“, die jetzt mit dieser Selbsttötung leben müssen, dazu gestanden hätten.
Meine Mutter hat immer wieder geäußert, daß sie sterben will. Mehrmals dachten wir, es sei bald soweit, aber immer wieder kam sie ins Leben zurück. Und dann starb sie zu einem Zeitpunkt, an dem wir nicht damit gerechnet haben. Wobei ich denke, daß es weniger die Demenz war, die ihrem Todeswunsch zugrunde lag, sondern dass sie eben auch chronische Schmerzpatientin war und in ihrer Bewegungsfähigkeit immer mehr eingeschränkt war. Und trotzdem hat sie in ihrer Krankheit Seiten und Interessen entwickelt, die ihr in gesunden Tagen fern waren. Die ganzen Jahre hat sie bei der Beschäftigungstherapie das Tun der anderen Bewohnerinnen rege kommentiert. Das war ihr Beitrag zum Gruppengeschehen. Mit Basteln, Malen und kreativen Gestaltungsformen hatte sie es ihr ganzes Leben nicht. In der Pflegedokumentation in ihrer letzten Lebenswoche war zu lesen: Bewohnerin hat in der Beschäftigungstherapie ein Bild gemalt.
Ich finde es sehr bedenklich, daß der Selbstmord von Gunter Sachs so idealisiert wird. Das sagt viel über den Zustand unserer Gesellschaft. Müßten wir nicht viel mehr danach fragen, wie denn die Rahmenbedingungen für dementiell veränderte Menschen und ihre Angehörigen sein müßten, die ein Leben in Würde ermöglichen?