Nachdem Mama wieder in den Top-Ten des Ranking für „heute-ist-Kotzbrocken-Tag mit höchstem Aggressionslevel“ war, habe ich nachdem sie eingeschlafen war – mich noch eine Weile mit Frau Wegener unterhalten, die sich ihrer zunehmenden „Altersvergeßlichkeit“ – so nennt sie es – sehr bewußt ist. „Ich kann mir immer weniger von dem merken, was jetzt ist“. Ihr wird langsam klar, daß sie auf Dauer im Heim ist. „Man hat mich hier hergelockt“ sagt sie mit Fassungslosigkeit in der Stimme. „Es hieß, ich soll ausgiebig untersucht werden. Und jetzt kann ich nicht mehr nach Hause. Ich fühle mich betrogen“ Ob sie weiß, daß ihre Wohnung aufgelöst ist? In ihrem Zimmer ist kaum ein persönlicher Gegenstand. Anscheinend war da niemand, den das gekümmert hat und der ein Auge darauf hatte.
Bald hat sie Geburtstag. „So gerne möchte ich noch einmal Gastgeberin sein“ sagt sie. Aber ich weiß ja nicht einmal, ob ich noch Erspartes habe oder ganz arm bin. Wie sie ihren Geburtstag gern feiern würde, frage ich sie. Ob bestimmte Menschen dabei sein sollen. „Ich hätte gern eine Kaffeetafel mit Käsekuchen und dann sollen die vorbeikommen, die mögen“. Und für mich völlig zusammenhangslos meint sie: „Früher habe ich jeden Abend gebetet: Ich bin klein – mein Herz ist rein – soll niemand drin wohnen außer Jesus allein“. Gibt es ein Gebet, das Sie jetzt noch beten – frage ich sie. Ja, antwortet sie. Jetzt bete ich jeden Abend: „Lieber Gott, gib mir Zuversicht und hilf mir, daß ich meinen Glauben nicht verliere“. Früher habe sie auch in der Bibel gelesen. „Ich weiß nicht, wo meine ganzen Bücher sind – auch nicht, wo meine Bibel ist und auch nicht mein Fotoapparat und meine Fotoalben“. In dem Zimmer befindet sich kein einziges Buch und auch kein Fotoalbum, und die Möbel sind vom Heim.
Ich bewundere diese Frau, die aus ihrem Leben gerissen worden ist, die sich über ihren Gesundheitszustand bewußt ist und soviel Freundlichkeit, Fürsorge und Anteilnahme ausstrahlt. Als ich mit einer Mitarbeiterin über Frau Wegeners Wunsch spreche, an ihrem Geburtstag Gastgeberin zu sein, erfahre ich, daß schon entsprechende Vorbereitungen laufen und in den nächsten Tagen eine Mitarbeiterin mit ihr einkaufen gehen wird, damit das alles nach ihren Wünschen und Vorstellungen sein wird.