Nach dem Bremer Tatort …

… gab es gestern im Live-Talk von Radio Bremen eine große Resonanz. Ich mußte an ein Treffen der Alzheimer-Angehörigen-Gruppe denken, das acht Jahre zurück liegt und über das ich schon mal geschrieben habe. Nach dem Film denke ich, daß sich inzwischen kaum was geändert hat. Hier ein Einblick in ein solches Gruppentreffen:

Her Huber, der natürlich im realen Leben nicht Herr Huber heißt, sondern ganz anders, weil alle hier im Weblog neue Namen bekommen – außer Günter, der hat sich dagegen verwahrt – also Herr Huber besucht die gleiche Angehörigengruppe wie ich.

Seine Frau ist im Heim, seit einem Jahr. Jahrelang hat er sie zuhause gepflegt, bis es nicht mehr ging, bis zum Zusammenbruch. Er konnte sie nicht mehr heben, und es sind zwei Leute erforderlich, um seine Frau zu drehen, zu waschen und was sonst noch so anfällt. Das war irgendwann selbst mit einem Pflegedienst, der zur Unterstützung ins Haus kam, nicht mehr zu machen.

Herr Huber hat ein offenes Gesicht und einen sehr trockenen Humor. Er besucht seine Frau, die nicht mehr sprechen kann, jeden Tag drei Stunden. „Danach bin ich immer völlig erschöpft“ erzählt er. „Da muß ich mich erst einmal erholen“. Einmal in der Woche nimmt er sein Instrument ins Heim mit, und dann singt er mit der Gruppe, in der seine Frau ist Volkslieder. Es ist ganz gemischt in diesem Haus und auf der Station, auf der seine Frau liegt. Es ist keine reine „Dementeneinrichtung“.

Ich habe ihn spontan auf Anfang bis Mitte 70 geschätzt. Als er neulich eine Bemerkung machte, seine Frau und er seien seit fast 65 Jahren verheiratet, meinte ich ganz perplex: „Ja, dann müssen sie mindestens Mitte 80 sein.“ „Ja, meinte er, wir haben sehr jung geheiratet. Wir waren 21“ sagte er mit versonnenem in die Ferne gerichteten Blick – und er schob nach: „Wissen Sie, wir sind gleichaltrig“.

„Das ganze Leben habe ich gearbeitet, fast 40 Jahre Rente eingezahlt. Durch den Krieg, wissen Sie, sonst wären es noch mehr Beitragsjahre gewesen. Aber das wird ja angerechnet.“ Einen guten Lebensstandard habe er seiner Familie bieten können. Angestellter im technischen Dienst „in gehobener Position“ sei er gewesen.

Und jetzt, erzählt er uns in der Angehörigengruppe – „und jetzt habe ich noch 420 Euro im Monat, wenn die Miete weg ist. 420 Euro für alles: Das Essen, die Medikamente, Versicherungen, was halt so anfällt. Das Auto haben sie mir nur gelassen, weil ich gehbehindert bin, die vom Amt, von wo aus das Heim für meine Frau bezahlt wird“ (das mehr als 4000 Euro im Monat kostet, wobei dann tagsüber zwei Pflegepersonen für 32 Menschen zuständig sind). Den Garten – gemeint ist der bei Berlinern so beliebte „Schrebergarten“ oder „die Laube“ habe er ja schon lange vorher aufgeben müssen.

„Letzten Monat war ick dreimal zum Jeburtstach einjeladen“ berlinert er. „Ick bin ja froh drüwer, dat ick wieda einjeladn werde. De Jrankheit isoliert een ja. Det wissen Se ja ooch alle.

Zustimmendes Nicken geht durch die Runde.

„ Aber ick konnte nich hinjehn. Also nich zu de dreie, nur zu eenem. N’ kleen Blumenstrauß und n’ kleenes Jeschenk, da musste mit 20 Euro rechnen. Man möchte ja nich so janz ohne wat in de Hände kommen. Aber det kann ick ma nich leistn. Man schämt sich ja soo. Det kann ick Ihnen jar nich sagen, wie man sich schämt. Det hätt ick mer nie jedacht, dat ick oof meene altn Taje so dastehe. Det janze Leben jearwetet, und nu stehste mit 420 Euro da.“

(Ich bin ja froh darüber, dass ich wieder eingeladen werde. Die Krankheit isoliert einen ja. Das wissen Sie ja auch alle. Aber ich konnte nicht hingehen. Also nicht zu allen drei Geburtstagen, nur zu einem. Einen kleinen Blumenstrauß und ein kleines Geschenk, da musst Du mit 20 Euro rechnen. Man möchte ja nicht so ganz ohne was in den Händen kommen. Das kann ich mir nicht leisten. Man schämt sich ja so. Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie man sich schämt. Das hätte ich mir nie gedacht, dass ich auf meine alte n Tage so dastehe. Das ganze Leben gearbeitet, und nun stehst Du mit 420 Euro im Monat da.)

Und man hört förmlich, wie alle die, die ihre Angehörigen noch zu Hause pflegen, denken: „Hoffentlich kommt es bei mir nicht so weit. Hoffentlich nicht. Nur das nicht.“ Und doch weiß jede – es sind heute lauter Frauen da, die zuhause pflegen – dass es ein Wettlauf gegen die Zeit ist, dass irgendwann der Moment kommen wird, wo es nicht mehr gehen wird. Denn an Alzheimer allein stirbt keiner. Mit Alzheimer kann man uralt werden. Und einige benennen ihre persönlichen Grenzen. Zaghaft sagt eine: „Wenn er nicht mehr nur einpullert (einnässt), sondern wenn es dann auch groß ist, was er in der Hose hat. Ihn dann sauberzumachen, das schaffe ich nicht“.

Und die beiden anwesenden Männer, die jahrelang ihre Frauen zuhause gepflegt haben, blicken sich an und Herr Huber sagt unter zustimmenden Nicken seines Sitznachbarn: „Das dachte ich auch, dass ich das nicht schaffe. Aber man schafft viel mehr als man jemals dachte, dass geht. Es muß ja gehen. Sonst bleibt nur noch das Heim“.

Frau Bernhard, eine liebe einfache Frau, die an diesem Nachmittag als erste in der Runde erzählt hatte, dass sie es wohl nicht mehr lange mit der Pflege zuhause schaffen wird – sie muß auch zwischen 75 und 80 sein und hat zwei Herzinfarkte hinter sich – Frau Bernhard meint: „Irgendwie muß es ja weitergehen“. Sie schaut in die Runde und hofft auf Bestätigung. „Irgendwie muß es doch …“ wiederholt sie und ihre Stimme bricht ab.

Die drei Wochen „Verhinderungspflege“, die von der Krankenkasse für ihren Mann bezahlt wird, hat sie dieses Jahr schon ausgeschöpft für ihren letzten Krankenhausaufenthalt. Da war dann ihr Mann stationär in einem Heim untergebracht, und sie hat sich auf eigene Verantwortung vorzeitig entlassen lassen um ihn wieder nach Hause zu holen. Jetzt ist erst Anfang Juli. Kränker darf sie nicht werden. Urlaub ist auch nicht drin. Der ist bei den drei Wochen, die ihr an „Verhinderung“ zugestanden werden, schon mitgerechnet. Frau Bernhard weiß das und wir alle in der Runde wissen es.

Sie versucht einen entschlossenen Gesichtsausdruck zu machen. Ihr Gesicht fällt in sich zusammen und sie beginnt zu weinen. Sie schaut zur Gruppenleiterin und fragt mit gepresster Stimme: „Aber wenn es dann soweit ist, wenn es dann gar nicht mehr geht, helfen Sie mir dann, dass ich einen Platz finde, wo es mein Mann gut hat. Ich kenne mich doch mit so was gar nicht aus. Jetzt geht es ja noch“.

Nur Schlaglichter aus zwei Stunden Gruppentreffen, das für die meisten Pflegenden die einzige Möglichkeit innerhalb von zwei Wochen ist, mehr zu sprechen als das, was man beim Einkaufen so sagt. Und dabei habe ich noch gar nicht von Frau Althauser erzählt, die traurig ist, weil sie nach dreißig Jahren letzte Woche ihr Konzertabonnement gekündigt hat und von der blinden Frau Gabler, die ihre demente, oft weglaufende Schwester pflegt.

Schniefen … Schnauben … undsoweiter

Therapiehund Largo - Plüschtiervariante

Therapiehund Largo – Plüschtiervariante

… oder vornehmer gesagt: Die Erkaeltungssaison ist eroeffnet. Ich laufe im Schniefen-und-Schnaufen-Modus, sofern man ueberhaupt von LAUFEN reden kann. Ich bin vertrant. Das muesste eigentlich niemand naeher interessieren – noch nicht einmal in Zeiten von Twitter und Facebook, wo man jederzeit seinen Beziehungs- oder Gesundheitsstatus der Welt mitteilen kann. Und wer mich kennt, weiss, dass ich zu solchen Befindlichkeitsbekundungen wenig Neigung habe. Aber ich habe mich angesteckt. Und dass das nicht nur fuer mich von Bedeutung ist, wird hoffentlich durch diees Posting deutlich.

Warum ich diesen Blogbeitrag trotzdem damit eroeffne, hat mit dem Thema PFLEGENDE ANGEHOERIGE zu tun. Das bin ich zwar seit dem Tod von Mama und Guenter nicht mehr, aber ich habe diese Zeit noch sehr lebhaft in Erinnerung. Als pflegender und-oder-betreuender Angehoeriger geraet man – je laenger umso mehr – ins soziale Abseits, in die Isolation. Man hat kaum Zeit um soziale Kontakte zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Und man hat zunehmend weniger Themen, die man mit anderen teilen kann. Man ist froh um jede Zusammenkunft, an der man teilnehmen kann ohne dass man weite Wege – fuer die man nicht die Zeit und auch nicht die Energie, die man nicht hat – auf sich nehmen muss. Wenn es zudem wenig oder gar nichts kostet ist das ein weiterer Pluspunkt. Denn wer aktiv pflegt und betreut hat wenig freie Zeit und oft wenig(er) Geld zur Verfuegung.

Vor einigen Tagen nahm ich an einem abendlichen Seminar teil. Als ich den Seminarraum betrat, war mir klar, daß die Seminarleiterin total erkältet war. Da waren nicht mehr Papiertaschentücher gefragt, sondern da war eine Klorolle im Einsatz. Wenn ich nicht eine Stunde unterwegs gewesen wäre, wäre ich sofort umgekehrt. In mir stieg Panik auf: Scheiße, was ist, wenn ich eine Erkältung bekomme … STOP ! Du pflegst und betreust nicht mehr. Mama und Günter sind tot.

Selbst in Mamas letzten Jahren, die sie im Heim verbracht hat, lief immer der innere Zensor in mir mit. Ich wusste, wie sehr sie auf meine Besuche wartet. Wenn ich krank werde, dann ist sie versorgt, unabhängig davon ob ich komme oder nicht. Aber jeder betreuende und heimbesuchende Angehörige weiß: Wenn ich oder ein anderer von uns einen grippalen Infekt, eine Darmgrippe oder irgendetwas anderes Ansteckendes ins Heim einschleppt, dann reduziert das die Lebensqualität der Wohngruppe erheblich, denn dann sind alle gruppenübergreifenden Aktivitäten gestrichen, damit sich die Infektion nicht ausbreitet.

In Mamas Wohngruppe hieß das: Kein Besuch vom Therapiehund, denn der ist in verschiedenen Gruppen im Einsatz; keine Teilnahme am Gottesdienst, keine Teilnahme am Ausflug zum Tierbauernhof, denn das Zusammentreffen mit Bewohnern aus anderen Wohngruppen könnte die Krankheitserreger verbreiten. Kein Besuch im Kaffeestübchen. Das waren nun die Lieblingsaktivitäten meiner Mutter. Aber für andere Bewohner füge ich hinzu: Keine Bewegungsgruppe, keine Singgruppe, keine Kunsttherapie, keine Beschäftigungstherapie, keine Kochgruppe – um nur einige zu nennen.

Aber bei Günter war es noch schlimmer: Ich habe ihn in seiner letzten Lebensphase – bis auf zwei Wochen im Hospiz – zuhause gepflegt. Er bekam ambulant Chemotherapie, Bestrahlungen und später auch eine Antikörpertherapie. Da ist jede Erkältung der SuperGAU, weil sie nämlich in Frage stellt, ob die Chemo- oder Antikörpertherapie fortgesetzt werden kann. An den Tagen, an denen er in die Charité zur ambulanten Chemo oder Antikörpertherapie musste, wurde erst einmal Blut abgenommen und im Labor festgestellt, ob alles so weit in Ordnung ist um die Chemo stattfinden zu lassen. Bei erhöhten Entzündungsparametern beispielsweise wurde dann keine Chemo gemacht, sondern der Patient wieder nach Hause geschickt. Sie kannten sich untereinander, die sich am Dienstag oder Freitag in der Tagesklinik trafen und nahmen aneinander Anteil. Immer wieder erzählte Günter von dem einen oder anderen Mitpatienten, der nach Verkündung der Laborwerte ohne Chemo nach Hause geschickt wurde: „Wir können heute keine Chemo bei Ihnen machen, weil …“. „Nach Hause“ hieß dann durchaus, daß jemand nach Stralsund oder in die hinterste Pampa vom Flächenland Brandenburg fahren musste: Außer Spesen nichts gewesen.

Und genau darum macht es mich unglaublich wütend, wenn Leute, die krankheitsbedingt eigentlich ins Bett gehören, unter Menschen gehen und ihre Keime, Bazillen undsoweiter weiterverbreiten. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen in Deutschland privat gepflegt werden und wie viele Menschen chronisch krank sind, dann ist das rücksichtslos mindestens gedankenlos.. Es geht ja nicht nur um die Chemotherapie von Krebskranken. In gleicher Weise sind auch Menschen mit vielen anderen chronischen Krankheiten deren Immunsystem herabgesetzt ist, betroffen. Auch pflegende Angehörige haben oft aufgrund der großen Belastungen eine geschwächte Abwehr.

In unserer Gesellschaft sind diese Halb-, Viertel- und Dreiviertelkranken hoch akzeptiert. Da wird bewundernd von Herrn Müller gesprochen, der sich trotz Erkältung zur Chorprobe schleppt oder Frau Adam, die trotz Grippe Lektorendienst im Gottesdienst macht oder Herr Schulz, der trotz Infekt die Jugendgruppe leitet und Frau Maier, die trotzdem die Stadtteilbibliothek betreut. Ihnen allen wird große Anerkennung gezollt, weil sie sich in ihrem gesundheitlich angeschlagenen Zustand zu irgendwelchen beruflichen oder Freizeitaktivitäten hinreißen lassen. Der Anerkennungsgrad steigt proportional mit dem hinfälligen Zustand dessen, der eigentlich unter Quarantäne gehört und nicht unter Menschen. Dass wir pflegende Angehörige deshalb – gerade aber nicht nur – in der Erkältungssaison noch mehr isoliert sind als sowieso durch die Krankheit des Angehörigen bedingt, das fällt unter den Tisch. Pflegende Angehoerige sind nämlich unsichtbar und werden in der Schniefen-Schnauben-Rotzen-Saison noch unsichtbarer (gemacht).

Herr Müller, Frau Adam, Herr Schulz und Frau Maier werden gelobt und heroisiert, weil sie sich verausgaben und vielleicht sogar erschöpfen. Wir pflegende Angehörige, die sich mehr verausgaben und erschöpfen, wir werden nicht bewundert und wollen das meist auch gar nicht. Aber trotzdem wäre es ganz schön, wenn man – gerade in der dunklen Jahreszeit – in den Frauenkreis gehen könnte, an einem Märchenabend teilnehmen könnte oder irgendwas Schönes und Entspannendes, was einem wieder Kraft und Anregung geben könnte, machen könnte ohne unsicher zu sein, ob man es riskieren kann dahin oder dort hin zu gehen, weil wieder jemand von der Schniefen-Schnauben-Rotzen-Fraktion unterwegs ist.

In dem Bereich, in dem ich verantwortlich war, bin ich immer wieder sehr deutlich geworden. Ich leite Wochenseminare in der beruflichen Fortbildung. Immer wieder gab es Teilnehmende, die gesundheitlich sehr angeschlagen kamen. Ich verstehe, dass man sich auf eine Fortbildungswoche freut, für die man sich lange vorher angemeldet hat und auch bezahlen muss. Dennoch habe ich gelegentlich Teilnehmende zum Arzt und damit nach Hause geschickt: ERSTENS, weil die Anforderungen in der Woche so hoch sind, dass man sie – wenn man gesundheitlich angeschlagen ist – nicht erfüllen kann und ZWEITENS betreue ich eine demenzkranke Mutter und habe (eineinhalb Jahre parallel dazu) zwei Jahre lang einen krebskranken Partner gepflegt. Wenn ich mir einen Infekt hole, dann bricht bei letzterem pflegemässig der SuperGAU aus.

Und nun zum Schluß eine Bitte bzw. Anregung, die ich in den acht Jahren meines Bloggens noch nie geäußert habe: Ich halte diese Gedanken und Erwägungen für so wichtig, weil sie viele betreffen, daß ich mich über Verlinkung würde.

Ende der Durchsage. Ich gehe mich weiter auskurieren.

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