… so heißt der Alzheimer-Roman, den Matthew Thomas nach 10jähriger Vorarbeit veröffentlicht hat. In der Welt steht eine sehr lesenswerte Rezension darüber und zwar hier.
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Rezension: Aus dem Schatten treten
54 Jahre ist Helga Rohra alt als bei ihr im Jahr 2009 eine Lewy-Body-Demenz diagnostiziert wird. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete sie erfolgreich als freiberufliche Dolmetscherin mit einer Spezialisierung auf medizinische und naturwissenschaftliche Fachtexte. Außerdem war und ist sie allein erziehende Mutter eines behinderten Sohnes.
In ihrem Buch gibt sie den Lesern Einblick, was es bedeutet, so früh an Demenz zu erkranken und auf welche Hindernisse sie stößt. Ob es nun die Arbeitsagentur, Ämter oder die Bahn ist, niemand ist auf Frühbetroffene eingestellt, denn unsere Bilder von Alzheimer und anderen Formen von Demenz sind von älteren Menschen geprägt, die weitgehend hilflos und pflegebedürftig sind.
Aber Helga Rohra steht mitten im Leben. Bei der örtlichen Alzheimergesellschaft findet sie Hilfe und Unterstützung. Erst veröffentlicht sie unter einem Pseudonym, später mit Hilfe eines Schreibassistenten – auch dieses Buch – unter ihrem richtigen Namen. Sie schildert alltägliche Erlebnisse, wie sie an guten und schlechten Tagen versucht mit ihrer Behinderung zu leben und ihr Leben zu gestalten. Frau Rohra entwickelt sich zur Expertin in eigener Sache, wird zu Podiumsgesprächen, Presseterminen und internationalen Konferenzen eingeladen. Dadurch kann sie auch die Situation Demenzkranker in anderen Ländern mit der in Deutschland vergleichen. Ihr Motto wird: „Nicht über uns – und nicht ohne uns“.
Auch Tabuthemen wie die finanzielle Situation, der soziale Abstieg und die ungewisse Zukunft spricht sie an. Sie sagt, was für sie hilfreich ist und wann sie Helfer als bevormundend oder übergriffig erlebt hat. Ganz wichtig finde ich den Hinweis, daß der häufige Vergleich von Demenzkranken mit Kindern schief ist. Dementiell veränderte Menschen haben ein gelebtes Leben mit vielen unterschiedlichen Erfahrungen hinter sich.
Helga Rohra ist eine wichtige Stimme – besonders was früh Betroffene angeht. Ich wünsche ihr viel Kraft auf ihrem weiteren Weg und würde gern mehr von ihr lesen. Das Buch hat mich sehr beeindruckt, und ich wünsche Frau Rohra viele Leser.
Rohra, Helga
Aus dem Schatten treten
Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze
Mabuse Verlag
Frankfurt 2011
133 Seiten, 16,90 €
Der Mabuseverlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür. Damit war keinerlei Einflußnahme auf meine Buchbesprechung verbunden.
Rezension: „der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger
Lili hat einige Gedanken zu meinem Blogeintrag „Pornos der Hochkultur“ eine Rezension zu „der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger geschrieben. Damit es nicht in den Kommentaren untergeht, stelle ich diese kleine Rezension von Lili hier als eigenen Blogeintrage ein. Sie schreibt:
Ich habe das Buch von Arno Geiger vor wenigen Tagen gelesen und war sehr beeindruckt. Er schreibt übrigens nichts „Unappetitliches“, was ihm übrigens in manchen Rezensionen als „Verklärung“ vorgeworfen wurde. Das Buch lässt dem Vater absolut die Würde. Ich habe es gelesen, weil es Arno Geiger gerade auch darum ging, seinen eigenen Umgang mit dem Vater, dessen beginnende Demenz lange nicht erkannt wurde und die Kinder ungeduldig, unzufrieden mit dem Vater sein ließ, darzustellen. Ich habe mich selbst so sehr wieder erkannt in den Dialogen und fand auch manche Überlegung des Autors für mich sehr hilfreich und teils auch entlastend in meinem Umgang mit meinem dementen Schwiegervater.
Den Vater von Arno Geiger kenne ich nur aus dem Buch. Ich finde nicht, dass er ihn verraten hat. Letztlich gilt die Überlegung für all jene Autoren, die über ihre Familien schreiben oder Menschen, die sie kennen und erkennbar sein lassen, dass sie gut darüber nachdenken müssen, was sie schreiben.
Das Buch von Tilmann Jens kenne ich nicht. Bei ihm gilt, dass wir alle den Vater, über den er schreibt, kennen und wahrscheinlich schockiert sind, dass jemand mit solcher Bildung und Intelligenz dement wird. Aber in seinem Fall gilt jedenfalls, dass der Vater selbst soviele Zeugnisse seines Lebens hinterlassen hat, die er gestaltete, dass ich den Vorwurf des Kolumnisten nicht für richtig halte.
Im übrigen möchte ich als betroffene Angehörige schon auch dafür sprechen, dass es manchmal wichtig ist, auch die unappetitlichen Aspekte zu streifen. Es passieren Dinge, die einen völlig ratlos lassen und man ist als Angehöriger froh, dann zu hören, dass dieses Verhalten professionell Pflegenden bekannt ist und auch klar ist, wie man damit umzugehen hat.
Ich finde es gut, dass Demenz in unserer Gesellschaft nicht mehr totgeschwiegen wird, sondern immer wieder ein Thema ist (gerade Sonntag sah ich in 3-Sat ein Feature dazu). Wir kommen nicht darum herum.
Ein afrikanischer Blick auf Alzheimer
„Yemma – Meine Mutter, mein Kind“ heißt Tahar Ben Jellouns bewegende Erzählung von der Alzheimer-Erkrankung seiner Mutter. „Ich habe meiner Mutter zu essen gegeben. Meiner Mutter, meinem Kind. Einen Löffel Milch mit Käse. Wie einem Kind, das mit geschlossenen Augen isst, und meine Hand zittert vor Rührung.“ Der hier seine an Alzheimer erkrankte Mutter füttert, ist Tahar Ben Jelloun. Und das Kind ist Lalla Fatma, seine alte Mutter, die mit einer Pflegerin zurückgezogen in ihrem Haus in Tanger lebt. Mal verwechselt sie ihn mit ihrem vor dreißig Jahren gestorbenen jüngeren Bruder. Dann mit ihrem ältesten Sohn Mustafa aus ihrer ersten Ehe mit fünfzehn. Oder sie sieht in ihm nur den kleinen kranken Tahar, den sie in Fes hätschelte. Oder beklagt sich, dass er sie seit seiner (!) Beerdigung nicht besucht hat. Dazwischen Momente von großer Klarsichtigkeit: Von ihrem Bett aus erinnert sie sich an ihre Jugend, ihre Ehen, die Hochzeitsfeste, die Vorbereitungen im Hamman. Eines Morgens bestellt sie Handwerker, die ihr Haus für die Beerdigung schmücken sollen. Dann wieder lacht sie und schminkt sich für ihre drei (verstorbenen) Ehemänner, die sie zum Essen erwartet. Lalla Fatma bevölkert ihr Haus mit Fantomen, Erinnerungen und Halluzinationen. Doch eines Tages bleiben auch die aus. Sie redet nur noch mit sich, singt leise vor sich hin, sagt nichts mehr. Ihr Blick ist leer. Und der Sohn hält ihre Hand, erzählt ihr von seiner Kindheit mit ihr, ihrer Schönheit als junger Mutter – bis auch diese Hautberührung zuviel ist, ihr unerträgliche Schmerzen bereitet. … so der Klappentext.
Berührend und manchmal bestürzend fand ich so manche der aus einer anderen Kultur stammenden Sprachbilder, zu denen ich ganz spontan einen Zugang hatte. Geradezu beklemmend wurde es, als er die Gier zweier Helferinnen im Umfeld der Mutter beschrieb. Die eine bediente sich schamlos an Kleidungsstücken, sodaß nach dem Tod der Mutter davon nichts mehr auffindbar war. Bei der letzten Begegnung nach dem Tod der Mutter mit den Familienangehörigen scannt sie den Raum ab, was sie noch mitnehmen kann oder nicht. Er beschreibt die Ambivalenz zwischen Aggression und Abhängigkeit sowohl auf Seiten der kranken Mutter als auch der erwachsenen Kinder, und auch die Wehrlosigkeit, weil die Krankheit so viel emotional abverlangt, dass man nicht auch noch an dieser Front kämpfen kann.
Man erfährt Einiges über das Altern in Marokko, Rückblenden in die Jugendzeit des Verfassers, gemeinsamer Erlebnisse, und es ist an keiner Stelle kitschig oder sentimental