Religion, Spiritualität, Weltanschauung bei Demenz

In den letzten Tagen – also in Zeiten von Corona – kamen auffällig Suchanfragen zum Thema Religion, Weltanschauung, Spiritualität oder „religiöse Unterstützung bei Alzheimer“. Die Blogbeiträge, die ich dazu verfaßt habe, sind hier zu finden.

„Getröstet und geborgen“ heißt eine Bibelausgabe für Demenzkranke. Die Rezension dazu ist hier.

Einen Gottesdienst für Demenzkranke wie er für die BewohnerINNEN des Pflegeheims, in dem meine Mutter gelebt hat, stattfand zum Thema „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ beschreibe ich   hier

 

Ohne Glauben – Spiritualität demenzerkrankter Menschen

… heißt ein Artikel auf der theologischen Internetplattform feinschwarznez:

Wie in einem Brennglas konzentriert das Thema Alzheimer die Ängste der Menschen. Demenz ist der verdrängte Schatten der Neuzeit, 1 ist der Theologe und Gerontopsychologe Stephan M. Abt überzeugt.

Demenz bedeutet den Verlust von Vernunft, Kontrolle und Autonomie, und das bei vollem Bewusstsein. Gerade aber über seine Rationalität definiert sich der souveräne Mensch der Neuzeit. Droht uns vor dem Sterben neben dem sozialen Tod durch Vereinsamung und Verarmung im Alter nun auch noch der rationale Tod durch Alzheimer?

Zum vollständigen Artikel geht es hier.

 

Argumentarium: Gutes Leben mit Demenz

Das Institut für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie in Wien  hat ein Argumentarium zum Thema „Gutes Leben mit Demenz“ veröffentlicht. Die Herausgeber schreiben:

Jedes Argumentarium greift ein ethisches Thema auf, das gerade in der gesellschaftlichen Debatte virulent ist. Über die aktuelle Debatte hinaus leuchtet das Argumentarium Hintergründe aus, indem es fragt: • „Worum geht es?“ und die ethischen Grundsatzfragen und -probleme herausarbeitet. • „Wer sagt was?“ und unterschiedliche ethische Positionen und Argumentationen darstellt. • „Was sagen die evangelischen Kirchen?“ und Antworten aus der Perspektive evangelischer theologischer Ethik vorstellt. Mit dem Argumentarium will das IöThE einen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten leisten und die Leser und Leserinnen in ihrer persönlichen ethischen Urteilsbildung unterstützen.

Die Hauptthemen des 12seitigen Heftes sind:

  • Immer noch Ich
  • Personsein in Beziehung
  • Evangelische Position(en)
  • ethische Konflikte

Das Heft kann hier heruntergeladen werden (pdf).

Weihnachtslieder-CD für Demenzkranke

Weihnachtslieder CDVor fast 2 Jahren hat Wiebke Hoogklimmer eine Volkslieder-CD für Demenzkranke herausgebracht. Nun ist eine neue CD mit Weihnachtsliedern erschienen. Mehr dazu hier. Ein Verzeichnis der Lieder sowie einige Hörproben findet man hier

Bibel und Demenz: Wie Weintrauben den Glauben stärken

Screenshot

Screenshot

Zum Weltalzheimertag hat evangelisch.de ein Interview mit Uli Zeller geführt. Er ist Krankenpfleger und Seelsorger und sucht nach Wegen, wie Glaube erfahrbar werden kann für Menschen mit Demenz.

Über seine Erfahrungen erzählt er hier. Über Gottesdienste für Demenzkranke habe ich in diesem Weblog immer wieder berichtet. Im Interview geht es auch um Bibelgruppen mit dementiell veränderten Menschen.

Ein weiterer interessanter Ansatz für die Arbeit mit dementiell veränderten Menschen, der im Artikel nicht vorkommt, ist Bibliolog.

Bibel CoverEs gibt auch eine Bibel für Menschen mit Demenz. „Getröstet und geborgen“ heißt sie. Eine Rezension habe ich hier hier geschrieben.

dementielle Veränderungen durch Metastasen im Gehirn

Eigentlich hatte ich gedacht, daß Alzheimer und Demenz nach dem Tod meiner Mutter im März 2011 – zumindest was das engste Umfeld betrifft – erledigt ist und ich nur noch dann und wann einen Eintrag im Weblog publiziere, wenn ich auf ein Buch, einen Artikel, einen Film, eine Ausstellung, ein Modellprojekt oder irgendetwas anderes Interessantes, was mit dem Thema Demenz zu tun hat, stoße. Dass es dann ganz anders kommt, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt nicht wissen.

Günter hat den Laptop mitgebracht und schaut mit Mama Fotos an

Günter hat den Laptop mitgebracht und schaut mit Mama Fotos an

Die alten „Stammleser“ dieses Weblogs werden sich vielleicht an Günter erinnern, von dem ich immer wieder erzählt habe, weil er mich in der langen Zeit mit meiner Mutter in einer Art und Weise unterstützt hat, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Er kannte sie nicht persönlich bis ich sie nach Berlin holte. Regelmässig hat er sie im Heim besucht, mit mir, aber auch oft ohne mich. Er ging mit ihr in den monatlich stattfinden Gottesdienst für Alzheimerkranke, besorgte dies und jenes, überspielte ihr CDs, kürzte ihre Hosen, sang Lieder aus den 20iger Jahren mit ihr, schob sie in ihrem Rollstuhl durch den Garten  und nahm ihr als „Herr Pfarrer“ die Angst vor dem letzten Gericht und vor der Hölle.

Sie war durch eine katholische Klosterschulerziehung gegangen, deren religiöse Unterweisung durch Druck, Angst und Strafe geprägt war. So hatte sie in ihrem Erwachsenenleben nichts mehr mit Religion zu tun haben wollen. Durch den Pfarrer, der im Heim die Gottesdienste gestaltete, hatte sie einen anderen Zugang bekommen, aber die alten, verschütteten Kindheitsängste brachen wieder auf. Vor dem Sterben hatte sie keine Angst, aber vor dem Danach. . Und Günter hat einen Weg durch die Demenz hindurch gefunden mit ihr darüber zu sprechen und ihr gesagt: Du brauchst Gott nur sagen, wenn Dir etwas auf dem Herzen liegt, was Dir leid tut. Dann vergibt er das. Und sie fragte: Und das reicht? ER: Ja, das reicht. Das hat sie getröstet und beruhigt, und seitdem war Günter immer wieder auch der „Herr Pfarrer“ wenn er sie besuchte. Er spielte dann das Spiel mit und war einige Minuten als Herr Pfarrer bei ihr und ging dann, weil doch noch andere Leute auf seinen Besuch warten. Einige Minuten später kam er dann wieder als Günter.

Die Beziehung zu ihrm war meiner Mutter so wichtig, daß sie einmal zu mir sagte: „Du darfst dich aber nie mit dem Günter streiten“. Warum nicht? Weil ich Angst habe, daß er dann nicht mehr zu mir kommt. Er sprach mit ihr darüber, daß er sie weiterhin besuchen wird – so wie es seine Gesundheit zuläßt – unabhängig davon ob er mit mir Knatsch hat oder nicht.

Im Mai 2010 hatte er einen Fahrradunfall und konnte sie nicht mehr besuchen. Es war Mama ganz schwer zu vermitteln, warum er nicht mehr (mit)kommen kann. Zu Weihnachten waren wir noch einmal gemeinsam bei ihr. Da hatte er bereits seine erste Krebs-OP und einer Chemotherapie, die er nicht vertrug, hinter sich. Auch bei ihrer Beerdigung hat er mich begleitet. Es folgten zwei weitere Chemotherapien, die er leider auch nicht vertrug – wobei das eine sehr freundliche Umschreibung für die heftigen Nebenwirkungen (Übelkeit, massive Gewichtsabnahme …) ist. Und nach jeder dieser Chemotherapien lag eine längere Erholungsphase.

Im Detail kann man das gar nicht beschreiben. In den 2 1/2 Jahren seiner Erkrankung hatte er 20 stationäre Krankenhausaufenthalte – von der Tagesklinik und diversen ambulanten Untersuchungen nicht gesprochen – und er hat fast keine der möglichen Komplikationen ausgelassen. Seine Lieblingsärztin meinte ein halbes Jahr vor seinem Tod: Herr G., wenn der liebe Gott wieder einmal neue Nebenwirkungen verteilt, dann melden Sie sich aber nicht gleich wieder als Erster.

Im Juli dann schlugen ihm die Ärzte eine Antikörpertherapie vor, die in der Tagesklinik gemacht werden konnte und die schlug gut an. Die vergleichsweise geringfügigen Nebenwirkungen (Juckreiz) konnte man gut in den Griff bekommen. Alles schien sich gut zu entwickeln bis Günter Ende August – also sieben Wochen später – dann im Lendenwirbelbereich über Schmerzen klagte. Er wurde ganz schnell in die Klinik aufgenommen und mußte innerhalb von wenigen Tagen viele Untersuchungen über sich ergehen lassen, bei denen Metastasen in den Knochen und drei Metastasen im Gehirn entdeckt wurden. Es gab dann noch eine Serie von Bestrahlungen, die dem Zweck dienten, das Wachstum der Gehirnmetastasen zu verlangsamen. Ansonsten wurden alle therapeutischen Maßnahmen bis auf die Schmerztherapie eingestellt.

Bis zwei Wochen vor seinem Tod im November 2012  habe ich ihn dann zuhause mit der Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes betreut und versorgt. Und dabei kam ich an meine Grenzen, denn die Metastasen wachsen und je nachdem welche Region im Gehirn betroffen ist, so sind dann die Veränderungen. Ich erlebte Demenz im Schnellverfahren und war darauf nicht vorbereitet. Günter, der ein Technik-As gewesen war und meine ganzen technischen Geräte aufgebaut und programmiert hat, konnte nicht mehr mit den Fernbedienungen seiner technischen Geräte umgehen und war nur noch an guten Tagen in der Lage, sein Telefon zu benutzen. Das Aufstehen fiel ihm immer schwerer, aber am schwierigsten waren die emotionalen Ausbrüche, die er selber nur schwer verkraftet hat.

Als er sich dann Pläne zeichnete, was in welchem Schrank wo ist und die Schrankfächer beschriftete, da hatte ich ein deja-vu-Erlebnis. Das kannte ich von meiner Mutter. Nach und nach fiel es ihm auch immer schwerer, Gedanken zuende zu denken und sprachlich auszudrücken. Ich versuchte dann zu kombinieren und zu raten. Manchmal gelang es, aber manchmal auch nicht. Ende Oktober kam er dann nochmal ins Krankenhaus, und da wurde klar, daß es zuhause nicht mehr geht.

Glücklicherweise habe ich sehr schnell einen Hospizplatz gefunden, und so konnte er die letzten zwei Wochen bis zu seinem Tod im L.azarus-Hospiz verbringen. Im Rahmen des Möglichen war das die beste Lösung. Im Hospiz hatte er ein Zimmer für sich. Die Pflegekräfte waren sehr zugewandt und engagiert. Er wollte meistens in Ruhe gelassen werden, und auf seine Wünsche wurde eingegangen. Was ich aber äußerst schwierig fand war, daß auf die dementiellen Aspekte seiner Verfassung – wie ich finde – nicht adäquat eingegangen wurde.

Im Hospiz geht es um Lebensqualität in der letzen Lebensphase. Dabei ist die Schmerztherapie ein sehr wesentlicher Faktor. Es wird nichts gegen den Willen des Patienten gemacht, was ich auch richtig finde. Aber im Hospiz hatte ich mit Günter ähnliche Probleme wie ich sie von stationären Krankenhausaufenthalten meiner Mutter kannte. Essen, Trinken und Medikamente werden hingestellt. Wenn sie dann nach einer gewissen Zeit nicht genommen sind, werden sie weggenommen, weil der Patient sie nicht will und ja nichts gegen seinen Willen geschehen soll.

Das geht aber an der Realität der dementiellen Veränderung vorbei. Wenn ich da war, dann konnte ich ihm erklären, daß das seine Schmerzmedikamente sind, und er die jetzt nehmen muß um zu vermeiden, dass er Schmerzen bekommt. Ähnlich war es mit dem Essen. Es geht dabei nicht um große Mahlzeiten, sondern um ein paar Löffel Griesbrei. Wenn er nichts im Magen hat, dann ist ihm übel von dem massiven Medikamenten. Also habe ich ihm erklärt, daß er doch ein paar Löffel Griesbrei essen soll, damit ihm nicht so schlecht ist. Er tat das dann auch. Aber die meisten Pflegekräfte taten das nicht. Für mich war das dann belastend. Ich hätte mir  Unterstützung von den Pflegekräften im Sinn von motivierendem Erklären gewünscht, aber dazu waren die meisten nicht bereit, weil das ihrer Meinung nach gegen den freien Willen des Gastes verstößt.

Ich war vorher uneingeschränkt positiv von Hospizen überzeugt, denke inzwischen, dass es gute Orte für Menschen sind, die noch kognitiv gut drauf sind und ihre Wünsche äußern können. Von daher habe ich durch diese Erfahrung eine realistischere Einschätzung bekommen.

Erst nach Günters Tod ist mir bewußt geworden, daß bei all meiner Beschäftigung mit Alzheimer und Demenz in den letzten Jahren nirgendwo der Aspekt von dementiellen Veränderungen als Folge von Metastasen im Gehirn auftaucht. Für Angehörige, die das dann erleben ohne vorher mit Demenz und Alzheimer konfrontiert gewesen zu sein, stelle ich mir das unglaublich schwierig vor.

Nachtrag 13. Januar 2013:
Vor einigen Tagen ist eine gute Freundin in dem gleichen Hospiz verstorben. Sie konnte bis relativ kurz vor ihrem Tod klar kommunizieren. Für sie war es der optimale Ort.

Gebet senkt Alzheimer Risiko bei Frauen

Laut einer israelisch-amerikanischen Studie sinkt bei Frauen, die regelmäßig beten, sei es privat oder öffentlich im Gottesdienst, die Wahrscheinlichkeit an Alzheimer zu erkranken um 50 Prozent. Bei bereits Erkrankten verlangsamt das Gebet den Krankheitsprozeß.

Mehr dazu (auf englisch) hier:
http://www.israelnationalnews.com/News/News.aspx/158642#.UCEMaaD12TI

 

 

Post von der Kirche (2)

Berliner Brief, evangelische Kirche, Berlin, Brandenburg, Generalsuperintendentin, Ulrike Trautwein, Auch im Jahr 2012 gibt es von der evangelischen Kirche einen Brief, dieses Mal von Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein, deren Vorgänger Ralf Meister (jetzt Bischof der Hannoverschen Landeskirche) es mit dieser Aktion, die unter dem Label „Berliner Brief“ läuft, vor zwei Jahren in die Medien geschafft hat. Der Berliner Brief  2012 von Ulrike Trautwein ist nicht ganz so lang und nicht ganz so banal wie der ihres Vorgängers.

Und wieder heißt es – diesmal etwas allgemeiner formuliert als vor zwei Jahren bei Herrn Meister: „Dank Ihrer Unterstützung wirken wir weit in die Gesellschaft hinein, besuchen Einsame, betreuen Kinder, helfen Obdachlosen. So hinterlassen wir Spuren aus Glaube, Liebe und Hoffnung“.

Und wieder fällt mir nur Folgendes ein: Mir ist immer noch nicht klar – auch zwei Jahre später 2012 nicht, was das soll. Wenn man das ehrenamtlich in der Kirche tätigen Leuten schreibt, dann ist mir das noch einigermaßen verständlich, aber was soll meine dementiell veränderte – inzwischen verstorbene – Mutter damit anfangen?  Abgesehen davon daß es die ganze Zeit ihres Heimaufenthalts nicht möglich war,  jemanden zu finden, der sie in den Sonntagsgottesdienst mitgenommen hätte, den sie gerne besucht hätte. Das Heim war direkt gegenüber von der Kirche. Das wäre ein zusätzlicher Aufwand von 2 mal 10 Minuten gewesen, und zwar für jemand, der sowieso in den Gottesdienst geht.

Die meisten Leute sind in der Kirche ohne groß darüber nachzudenken und nehmen den kirchlichen Service zu bestimmten Lebensereignissen in Anspruch.  Diesen Leuten zu sagen, daß sie „Spuren aus Glaube, Liebe und Hoffnung“ hinterlassen, berührt mich merkwürdig.

700 000 evangelische Christinnen und Christen haben dieses Schreiben bekommen. 533 000 Briefe, die pro Stück 42 Cents kosteten, wurden verschickt. Die Kosten dieser Maßnahme belaufen sich also auf 223 860 Euro. Das seien nur 0,2 % des durchschnittlichen Kirchensteueraufkommens eines Berliner Haushaltes heißt es in der Website zum Projekt.

Und eine allerletzte Frage: Ordne ich das jetzt unter der Kategorie „Spitituelles und Religiöses“ oder unter „Amtsschimmel“ ein?

Zum Weiterlesen:

Berliner Brief 2012
Post von der Kirche (1)

Warum ist es wichtig nach Religionen zu pflegen?

Eigentlich wollte ich nur mal schauen, was es in der letzten Zeit für Suchanfragen gab, die auf dieses Weblog führten. „Warum ist es wichtig nach Religionen zu pflegen?“ wollte jemand wissen. Hm – ich bezweifle erst einmal daß es für die meisten Menschen ein Anliegen ist, „nach Religion“ gepflegt zu werden.

Klar, bestimmte religiöse Zugehörigkeiten bringen bestimmte Erfordernisse mit sich. Orthodoxe Juden benötigen koscheres Essen und eine bestimmte religiöse Infrastruktur und werden deshalb in ein Haus gehen, das diesen Bedürfnissen entgegenkommt. Das muß aber nicht unbedingt ein Heim sein, in dem nur Juden sind. In Frankfurt und in Basel gibt es Häuser, die eine Infrastruktur für orthodoxe Juden gewährleisten und dennoch auch nicht-jüdische Bewohner haben. Auch praktizierende Muslime haben spezielle Bedürfnisse im Hinblick auf Körperpflege oder Nahrungsmittel, die halal sind. In Berlin gibt es bereits ein Heim für diese Gruppe. In dem Heim, in dem meine Mutter zuerst war, wurde eine Etage speziell für Zeugen Jehovas eingerichtet. Eine eigene Infrastruktur für eine religiöse Gruppe ist dann erforderlich, wenn diese Gruppe Bedürfnisse hat, die durch ihre Religionsausübung sehr stark von der Allgemeinheit abweicht.

Für die meisten Menschen dürfte es ausreichen, wenn eine Atmosphäre der Wertschätzung und des Respekts geschaffen wird, in der auch religiöse Themen und Bedürfnisse Platz haben. In Mamas erstem Heim waren die meisten Bewohner ihrer Wohngruppe evangelisch geprägt. Ein Herr war viele Jahre sehr engagiert in seiner Kirchengemeinde gewesen. So gab es in dieser Gruppe ein gemeinsames Abendritual. In einem Gemeinschaftsraum wurde einmal monatlich ein Gottesdienst angeboten, und der Pfarrer machte Geburtstagsbesuche. Abgesehen vom Abendritual war Mama dort an religiösen Angeboten nicht interessiert.

Im jetzigen Heim hat ein Großteil der Bewohner und Mitarbeiter keinen Bezug zu Religion. Die Kirche liegt gegenüber vom Haus. In Teamarbeit zwischen dem evangelischen Gemeindepfarrer, dem Sozialarbeiter und der Heilpädagogin, die für gruppenübergreifende Aktivitäten (Kochgruppe, Nachtcafe, Besuche der Therapiehundeteams etc.) zuständig ist, wurde gemeinsam ein Konzept für monatliche Gottesdienste entwickelt, die in der Kirche stattfinden – und zwar selbst in den Wintermonaten, wenn die Gemeinde sich zum Gottesdienst im Gemeindehaus zusammenfindet. Wie diese Gottesdienste konkret gestaltet werden kann man hier im Blog unter der Kategorie „Spirituelles“ nachlesen und auch hier im alten Blog. Die Grundidee dieser Gottesdienste besteht darin, existentielle Erfahrungen zu thematisieren in einer offenen Form, die Menschen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen anspricht.

So wie Religion im Heim kein Thema sein kann, also ausgeblendet wird, so gibt es Einrichtungen, wo genau die andere Tendenz zu finden ist. Nicht weit von mir gibt es ein Haus, das von Diakonissen geführt wird. Die Gesamtatmosphäre und die Angebote haben mir gut gefallen. Kurz bevor ich mich fast für diese Einrichtung entschieden hätte, habe ich jemand kennengelernt, der dort seine Altenpflegeausbildung gemacht hatte und mir erzählte, daß der sonntägliche Gottesdienst in alle Räume übertragen wird – außer auf die Toiletten. Eine solche Zwangsveranstaltung wollte ich für Mama nicht. Und so beträgt mein einfacher Anfahrtsweg zu Mamas Heim eben nicht zwanzig Minuten sondern fast zwei Stunden – bei wetterbedingten oder baubedingten Störungen der S-Bahn auch gerne länger.

Es gibt aber auch Bedürfnislagen jenseits von Religion, die zu speziellen Wohnformen im Alter führen. In Berlin arbeitet der Verein „Village“ an einer Pflegeeinrichtung für schwule und lesbische Senioren. Vor einiger Zeit habe ich darüber einen Fernsehbeitrag gesehen, aus dem deutlich wurde, daß es dabei um die Generation von Schwulen und Lesben geht, die aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen sicher gehen wollen, daß sie auch im Alter und bei Pflegebedürftigkeit offen mit ihrer sexuellen Neigung umgehen und darüber reden können wollen und nicht in die Situation kommen wollen, diese zu verschweigen.

Außerdem weiß ich von einigen jüdischen Überlebenden der Schoah, daß sie nicht in ein rein jüdisches Pflegeheim gehen wollen, aber auch nicht mit Tätern und Mitläufern des Nazisystems ihre letzten Jahre verbringen wollen. Sie bevorzugen in Berlin eine bestimmte evangelische Einrichtung, von der bekannt ist, daß dort sehr genau hingeschaut wird, wer die Nichtjuden sind, die ins Heim aufgenommen werden. Dieses Haus ist aber nicht aufgrund der Bedürfnislage der Juden entstanden, sondern von Christen, die im Widerstand engagiert waren. Die haben nämlich auch keine Lust auf Altnazis oder Mitbewohner, die mit dieser Zeit unreflektiert umgehen.

Wenn jemand Fragen zu diesem Beitrag hat, dann bitte im Kommentarbereich einstellen.

Gottesdienstfrust am Weltalzheimertag 2010

KWG

Ich hätte es wissen können, aber ich wollte da hin, denn die Pfarrerin, die von evangelischer Seite den Gottesdienst hielt, hat ein Buch herausgegeben, das zum Besten gehört, das ich in all den Jahren über den Umgang mit Alzheimer gelesen habe. Die Mehrzahl der Autoren und Autorinnen kennt Demenz nicht nur aus beruflicher Perspektive, sondern aus der langjährigen Begleitung von betroffenen Menschen im persönlichen Umfeld.

Also auf in die KaWeGe – wie der Berliner sagt, wenn er die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche meint – zum „ökumenischen Gottesdienst für pflegende Angehörige, Pflegekräfte, Ehrenamtliche und Menschen mit Demenz“.

Gestaltet und verantwortet wurde der Gottesdienst von der Alzheimer Gesellschaft Berlin und vom geistlichen Zentrum für Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Achtzig bis hundert Menschen werden wohl in der Kirche gewesen sein zum Thema „gut, dass es dich gibt“.

Die Orgel improvisiert sich mit einem Freestyle-Arrangement Marke „brausend-dröhnend“ an einen Choral heran. Von der Melodienführung war bis zum Beginn des Singens nichts zu vernehmen.

HALLO: Wir sind in einem Gottesdienst, der sich ausdrücklich auch an Demente richtet.

Wie sollen sich dementiell veränderte Menschen da hineinfinden? Und daran, dass erst eine Strophe vorgesprochen und dann gesungen wird, denkt hier niemand. Demente, die nicht mehr lesen können, sind hier nicht vorgesehen.

Nun ist der katholische Priester mit seinem Eingangsgruß und dem Kreuzzeichen dran, dann die Pfarrerin mit der evangelischen Variante. Die konfessionell gebundenen Gottesdienstbesucher kennen die Variante ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft, aber die der anderen nicht. Die kirchenfernen Besucher kennen keine der Antworten. Deshalb gibt es leichte Verunsicherungsreaktionen, die vermeidbar wären, wenn alle einen Gottesdienstablauf mit den liturgischen Teilen, Gebeten und Texten in die Handbekommen hätten.

Zur Erinnerung: Wir sind in einem Gottesdienst, der sich ausdrücklich auch an Demente richtet.

Auch ehrenamtliche Mitarbeitende sind in den Gottesdienst einbezogen. Eine von ihnen liest einen Psalm. Es ist leise und lese-technisch eine Zumutung, denn die Vortragende artikuliert schlecht, verschluckt Endsilben und verwäscht Silben ineinander. Ein paar mal dachte ich: „Ach das meint sie“, was mir aber auch nur möglich war, weil ich den Psalm kannte. Ein Kirchenraum klingt anders als das heimische Wohnzimmer, kann auch einen Nachhall haben. Deshalb ist eine Sprechprobe für Menschen, die keine Erfahrung mit einem solchen Raum haben umso wichtiger.

Abgesehen davon könnte man einen Psalm von allen sprechen lassen. Da könnten noch manche von den Dementen mitmachen. Aber für die war – außer auswendigem Mitsingen – an keinem Ort des Gottesdienstes eine Möglichkeit sich einzubringen.

Und wenn man schon kein Blatt zum Gottesdienstablauf erstellen will, dann könnte man Texte und Lieder mit einem Beamer auf eine Leinwand projizieren. Das ist in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bei Gottesdiensten für ein junges Publikum durchaus üblich, warum dann nicht auch bei dementiell veränderten Menschen?

Dann wird ein Text aus dem ersten Korintherbrief vorgelesen, der vom Leib und den vielen Gliedern handelt. Es ist eine für meine Ohren etwas umständliche Übersetzung. Ich tippe auf Luthertext. Das hat für evangelische Kirchgänger sicher einen hohen Wiedererkennungswert, aber für die anderen? Hier wäre – egal welche Übersetzung man benützt – eine Visualisierung sinnvoll: Text im Gottesdienstblatt oder per Beamer auf die Leinwand, denn:

Hallo: Wir sind in einem Gottesdienst, der sich ausdrücklich auch an Demente richtet.

Die Predigt ist gut gemeint mit dem Tenor: Wir können alle Unterschiedliches und brauchen einander – wie die Glieder am Leib sich brauchen. Ein Beispiel blieb bei mir hängen: „Wenn wir alle Orgel spielen könnten, dann wäre niemand da um Zuhören …“. Ich fühle mich zugetextet. Überdruß steigt in mir hoch. Ich schaue auf die Uhr: Wann ist das hier endlich vorbei? Aber ich kann hier nicht raus ohne andere zu stören. Es gibt keine Visualisierung, nichts wo ein dementer Mensch sich verankern könnte. In Mamas Heim bekommt immer jeder beim Gottesdienst etwas in die Hand – ein „Geschenk von der Kirche“, das dann in den Alltag mitgeht. Das kann eine Karte, ein Zweig, ein Apfel, ein Schneckenhaus oder etwas anderes Kleines sein.

Auch eine Solistin mit einer sehr schönen Stimme wirkt mit. Ich verstehe den Gesang nicht, aber weil ich die Melodie kenne, höre ich „motherless child“ heraus. Aha, es geht wohl um „sometimes I feel like a motherless child“. Auch hier keine Verstehenshilfen – keine Niedrigschwelligkeit.

HALLO: Wir sind in einem Gottesdienst, der sich ausdrücklich auch an Demente richtet.

Irgendwann waren auch Fürbitten dran, die mich – ich kann es nicht anders ausdrücken – gelinde gesagt verblüfft haben. Ich kenne das so, dass Gott gebeten wird für Nöte und Anliegen von Anwesenden oder Abwesenden. Hier kam eine ziemlich lange persönliche Einleitung, die eine eigene Befindlichkeit oder eine persönliche Erfahrung thematisierte, an die dann eine Fürbitte drangehängt war. Diese Art der Verbindung von persönlicher Erfahrung in der Ich-Form und Fürbitte in der dritten Person empfand ich als sehr vereinnahmend. Ich sah und hörte förmlich die Handlungsanweisung: Formulieren Sie eine Fürbitte, in der Sie die Lebenswirklichkeit der Anwesenden aufgreifen und thematisieren …“. Sehr didaktisch, aber wie heißt es so schön: Man merkt die Absicht und ist verstimmt.

Was mich bei christlichen Gottesdiensten oft nervt ist die penetrante Geldsammelei. Ich habe nichts gegen einen Behälter am Ausgang, in den ich etwas reinlegen kann, wenn ich das Ziel der Sammlung unterstützen will. Es ist mir zuwider, wenn Leute mit Körben so am Ausgang positioniert sind, dass ich mich genötigt fühle. Dann mag ich gar nicht, selbst wenn ich unter anderen Umständen etwas gegeben hätte. Zum anschließenden Kaffeetrinken hatte ich keine Lust mehr.

Fazit:: Hier sind Fachleute für Demenz geballt auf einem Haufen:
-das Zentrum für Seelsorge für Demente und ihre Angehörigen
– die Pfarrerin, die in der Krankenhausseelsorge und in einem Seniorenstift arbeitet und ein herausragendes Buch zum Thema Umgang mit Dementen herausgegeben hat und
– die Alzheimergesellschaft Berlin

Und trotzdem ist das Ergebnis wenig reflektiert dürftig. Am Besten hat mir der katholische Priester gefallen, der spontan für seinen erkrankten Kollegen eingesprungen ist: Freundliche Ausstrahlung, langsames und gut verständliches Sprechen und Gesten (Kreuzzeichen). Dieser ansonsten sehr sprachlastige Gottesdienst hätte gut noch Einiges an Zeichen und Bildern vertragen.

Ach, ich würde diese Fachleute alle gern zu dem Pfarrer und der Kirchenmusikerin und Katechetin schicken, deren Alzheimer-Gottesdienst meine lebenslang religiös abstinente Mutter so gerne mag, dass sie seit vier Jahren regelmässig jeden Monat dabei ist und traurig ist, „dass es das nicht öfter gibt“.

Wie schon am Anfang des Artikels bemerkt: Ich hätte es besser wissen können, denn in der Alzheimerangehörigengruppe hatte ich schon so einiges Frustrierende über diese jährlich stattfindenden Gottesdienste zum Weltalzheimertag gehört. Aber mich zog die Pfarrerin wegen des tollen Buches an.

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