Jochen Siemens schrieb vor einem Monat im Stern online eine Kolumne über die Bücher von drei Autoren, die sich mit der Demenzerkrankung ihrer Väter auseinandersetzen. Er kommt zu dem Schluß, daß diese Bücher, die ohne Wissen und Zustimmung der Betroffenen verfaßt werden und Details aus derem persönlichen Bereich öffentlich machen, schamlos seien und ein Verrat an den Vätern, die sich nicht wehren können, bedeuten. Es geht um das Buch „Demenz“ von Tilman Jens, um „der alte König im Exil“ von Arno Geiger und „Vatertage“von Katja Thimm.
Ich habe in der Buchhandlung einige Seiten von Tilman Jens und Arno Geiger gelesen. Ich habe beide Bücher nach einigen Seiten zur Seite gelegt, ohne dass ich genau sagen könnte, warum. War es, weil mir das Thema Demenz seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr so alltäglich nah ist oder weil mir das Thema „über“ war. Gehört dieses Weblog möglicherweise auch in die Kategorie „schamlos“? Wenn ja, warum? Und wenn nein, warum nicht? Wo ist die Grenze?
„Es tut weh, die Bücher ihrer Kinder darüber zu lesen. Aber nicht die Krankheit tut weh, sondern weil sie, die Väter, solche Bücher nicht verdient haben. Sie sind schamlos geschrieben“ meint Jochen Siemens über die Bücher dieser drei Autoren. „Verrat am kranken Vater“ nennt er diese Bücher und begründet das folgendermaßen:
Bedrückend ist nun, dass wir, das Publikum, diese unbekannten Väter, diese Lebensleister, die nach dem Krieg Kinder erwachsen gemacht haben, die nun schreiben, nur noch als verwirrte, kranke Sonderlinge kennenlernen. Mehr dürfen sie auf der Welt nicht von sich hinterlassen. Sagen die Kinder. Es mag pathetisch klingen, aber auch in der Publizistik sollte es eine Art Generationen-Vertrag geben.
Autoren wie Thimm oder Geiger oder Jens haben sich ihre intimen Erkenntnisse nicht erarbeitet, recherchiert oder fiktiv erschrieben. Sie haben sie nur erlebt, weil sie zufällig Kinder demenzkranker Väter waren. Und die können nun nicht ohrfeigen, protestieren oder mit Enterbung drohen, was die Kinder aus ihrem Leben herausschreiben. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, was über sie in den Buchläden steht. Ist das in Ordnung? Nein.
Einen Tag später ergänzt Frank Ochmann diesen Artikel durch seinen Blick auf die Leser und Leserinnen dieser Bücher. Warum kommen diese Bücher so an, fragt er in seiner Kolumne „Kopfwelten: Emotion pur – Einsicht null“. Was aber macht den Erfolg und die Attraktivität solcher „schonungslosen“ Einblicke aus? Denn dazu braucht es nun mal Leser, Zuschauer, Käufer. Was also haben die davon und was versprechen sie sich, wenn sie „ganz nah“ herangelassen werden? – fragt Ochmann. Seine Antwort: Rührung – Ergriffenheit – Schwall der Gefühle?
Da mag er teilweise recht haben, aber ich finde, das greift zu kurz. Demenz nimmt epidemische Ausmaße an. Mehr Menschen als wir wahrheben wollen, sind in ihrem Umfeld als Freunde, Angehörige, Bekannte, ehemalige Kollegen betroffen und suchen Wege, wie sie damit umgehen können. Als ich vor drei Wochen in der Lebenshilfe-Abteilung eines Bücherkaufhauses geschaut habe, was denn gerade „in“ ist, war ich erstaunt, dass es einen halben Meter Ratgeber unter dem Stichwort „Demenz“ gibt. Als meine Mutter vor sechs Jahren erkrankte, das gab es diese Kategorie noch gar nicht, sondern es lief unter „Alter“ und da standen zwei oder drei Bücher.
Wenn es so ist, wie Jochen Siemens schreibt, daß die Väter auf Krankheit und Verfall reduziert werden und „ausgestellt“ werden, dann ist seine Kritik berechtigt. Wie nah soll oder muß man rangehen, wenn man über diese Lebenssituation schreiben will? Für mich war immer klar, dass ich nichts über Mama schreibe, was ich nicht über mich geschrieben wissen wollte, wenn ich in dieser Situation wäre. Details über Inkontinenz oder Nahrungsaufnahme gehen niemanden etwas an. „Unverstellt“ oder „authentisch“ werden Berichte genannt, in denen das thematisiert wird. Für mich ist damit eine Grenze überschritten. Bin ich da überempfindlich oder beschönige ich? Würde es den Lesern dieses Weblogs ein tieferes Verständnis der Krankheit ermöglichen, wenn ich das hier ausgebreitet hätte?
Einmal habe ich im alten Weblog über Inkontinenz geschrieben. Da ging es um den Umzug ins neue Heim und den ersten Besuch dort, und wie die Mitarbeiter mit Mutti umgehen und auch offen über einen Fehler im Umgang mit meiner Mutter sprechen. Es ist sicher eine Gratwanderung über dieses Thema zu schreiben. Im Unterschied zu den Büchern der prominenten Autoren weiß – außer einigen engen Freunden von mir, drei Internetkontakten und Mamas ehemalige Nachbarn – fast niemand Mamas oder meine Identität. Aber wäre es anders, wenn das bekannt wäre. Wäre mein Schreiben dann schamlos? Ich erinnere mich an heftige Vorwürfe in Mails von mir unbekannten Menschen, die auf ein Foto reagierten, das Mama von hinten auf den Tierbauernhof zeigt. Mehr Fragen als Antworten.
Ja, so viele Fragen, aber hoffendlich auch Antworten. Hier meine: Ich habe beim Lesen des Bloks nie gedacht: das ist mir zu dicht oder unangenehm.! Mir war es immer klar, dass hier nicht die „unappetitlichen“ Details ausgebreitet werden. Ich fand immer eine große Liebe und Respekt in den Zeilen wieder. Manche Hilfe, aber auch Anregung der Fantasie für den Umgang mit demenziel veränderten Menschen und viel Humor! Danke für das Teilhaben lassen eines schweren Stück Weges. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Gottes Segen in dieser Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
Sabine
Ich kenne die Bücher nicht deshalb kann ich jetzt nur über diesen Blog „Urteilen“.
Nein für mich kommt dieser Blog nicht wie ein Porno rüber.
Viel ehrer wie ein Aufklärunsbuch bei dem der Autor auch über sein „erstes mal“ schreibt.
Ich habe das Buch von Arno Geiger vor wenigen Tagen gelesen und war sehr beeindruckt. Er schreibt übrigens nichts „Unappetitliches“, was ihm übrigens in manchen Rezensionen als „Verklärung“ vorgeworfen wurde. Das Buch lässt dem Vater absolut die Würde. Ich habe es gelesen, weil es Arno Geiger gerade auch darum ging, seinen eigenen Umgang mit dem Vater, dessen beginnende Demenz lange nicht erkannt wurde und die Kinder ungeduldig, unzufrieden mit dem Vater sein ließ, darzustellen. Ich habe mich selbst so sehr wieder erkannt in den Dialogen und fand auch manche Überlegung des Autors für mich sehr hilfreich und teils auch entlastend in meinem Umgang mit meinem dementen Schwiegervater.
Den Vater von Arno Geiger kenne ich nur aus dem Buch. Ich finde nicht, dass er ihn verraten hat. Letztlich gilt die Überlegung für all jene Autoren, die über ihre Familien schreiben oder Menschen, die sie kennen und erkennbar sein lassen, dass sie gut darüber nachdenken müssen, was sie schreiben.
Das Buch von Tilmann Jens kenne ich nicht. Bei ihm gilt, dass wir alle den Vater, über den er schreibt, kennen und wahrscheinlich schockiert sind, dass jemand mit solcher Bildung und Intelligenz dement wird. Aber in seinem Fall gilt jedenfalls, dass der Vater selbst soviele Zeugnisse seines Lebens hinterlassen hat, die er gestaltete, dass ich den Vorwurf des Kolumnisten nicht für richtig halte.
Im übrigen möchte ich als betroffene Angehörige schon auch dafür sprechen, dass es manchmal wichtig ist, auch die unappetitlichen Aspekte zu streifen. Es passieren Dinge, die einen völlig ratlos lassen und man ist als Angehöriger froh, dann zu hören, dass dieses Verhalten professionell Pflegenden bekannt ist und auch klar ist, wie man damit umzugehen hat.
Ich finde es gut, dass Demenz in unserer Gesellschaft nicht mehr totgeschwiegen wird, sondern immer wieder ein Thema ist (gerade Sonntag sah ich in 3-Sat ein Feature dazu). Wir kommen nicht darum herum.
Ich kann Lili nur zustimmen: Das Buch von Arno Geiger, das mir zufällig in die Hände gefallen ist und das ich gelesen habe, weil immer mehr Bekannte an Demenz leiden, halte ich für hilfreich. Arno Geiger zeigt eine liebevolle Sichtweise und Art, mit der Krankheit umzugehen. Diese andere Sichtweise hat mir gut gefallen.
Da ich nur Geiger gelesen habe kann ich die Meinung einer pornografischen Ausbreitung von Details nicht zustimmen. Eher hat Geiger es geschafft eine warmherzige und treffende Zusammenfassung seiner Erlebnisse zu verfassen. Das Leben des Vaters wird in meinen Augen ausführlich gewürdigt. Kein Urteil, keine Wertung, welche einem so langen Leben und seiner Komplexität gerecht wär wird angestrebt.
Ist es vielleicht möglich, dass einige Menschen heute nicht mehr sehen wollen, mit welcher Kraft und Unbarmherzigkeit die Krankheit eine Persönlichkeit zerstört? Alzheimer in der eigenen nahen Familie führt den Betroffenen immer wieder die eigene Sterblichkeit vor Augen. Keine Medizin, welche dies aufhält, keine Spritze, keine Pille, nur die Ohnmacht zu beobachten wie geliebte Menschen jeden tag ein wenig mehr ihrer Welt einbüßen.
Ich tue mich auch heute noch schwer im Limbo zwischen mechanischer Pflege und psychischer Folter als pflegender Angehöriger zu existieren, Arno Geiger hat mir das Leben einfacher gemacht, und sei es nur, indem er zu vermitteln mag, dass man nicht allein ist. Dieses Problem ist meiner Meinung nach auch Ergebnis solcher Meinungen wie des Herrn Siemens; diese Ansichten verhindern die Erkenntnis, dass jeder von uns einem solchen Schicksal anheim fallen kann zu Gunsten einiger weiterer Jahre seeliger Unwissenheit.